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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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doch wieder ganz anders. Ihr wart schwach. Wir töteten euch so leicht und fanden Vergnügen daran, denn für uns wart ihr schön, und mein Volk fühlte sich schon immer von Schönheit angezogen. Vielleicht war es eure Ähnlichkeit mit uns, die uns so sehr fesselte. Jahrhundertelang wart ihr nichts anderes als unsere Beute.
    Aber im Laufe der Zeit fanden gewisse Veränderungen statt. Meine Rasse war sehr langlebig, doch nur gering an der Zahl. Der Paarungsdrang ist seltsamerweise bei uns nicht vorhanden, während er euch Menschen mindestens genauso beherrscht wie uns der rote Durst. Simon erzählte mir, als ich ihn nach meiner Mutter fragte, daß die männlichen Vertreter meiner Rasse nur dann Begierde verspüren, wenn ein weibliches Wesen in Hitze ist, und das geschieht sehr selten - am häufigsten, wenn Mann und Frau gemeinsam getötet haben. Und selbst dann sind die Frauen nur selten fruchtbar, und dafür sind sie dankbar, denn eine Empfängnis bedeutet für unsere Frauen gewöhnlich den Tod. Ich tötete meine Mutter, wie Simon mir berichtete, indem ich mich aus ihrem Leib herauswühlte und in ihr soviel Schaden anrichtete, daß selbst unsere Heilkräfte nicht mehr viel ausrichten konnten. So ist es meistens, wenn Angehörige meiner Rasse das Licht der Welt erblicken. Wir beginnen unser Leben mit Blut und Tod, genauso wie wir später unser Dasein fristen.
    Darin liegt ein gewisses Gleichgewicht, eine Ausgewogenheit. Gott, wenn Sie an ihn glauben, oder die Natur, wenn nicht, gibt und nimmt. Möglicherweise existieren wir noch tausend oder mehr Jahre.
    Wären wir so fruchtbar wie Ihre Rasse, würden wir schon bald die Welt füllen. Ihre Rasse vermehrt sich ständig, schwärmt herum wie ein unendlicher Fliegenschwarm, aber sie stirbt auch wie die Fliegen, an kleinen Wunden und Krankheiten, die meine Leute einfach abschütteln.
    Es ist kein Wunder, daß wir anfangs so gering von euch dachten. Aber ihr vermehrtet euch, ihr bautet Städte, und ihr habt gelernt. Wir hatten einen ebenbürtigen Verstand, aber wir brauchten unseren nie anzustrengen, weil wir so stark und mächtig waren. Ihre Rasse brachte Feuer auf die Welt, Armeen, Pfeil und Bogen, Kleidung, Kunst und Literatur und Sprache, Zivilisation, Abner. Und, zivilisiert, war sie kein Jagdwild mehr. Sie machte Jagd auf uns, tötete uns mit Feuer und Holzpflock, sie drang bei Tag in unsere Höhlen ein. Unsere Zahl, noch nie besonders groß, schrumpfte immer mehr. Wir kämpften gegen euch und starben, oder wir flohen vor euch, aber wohin wir uns auch wendeten, dorthin folgtet ihr uns schon bald. Schließlich taten wir, wozu wir letztendlich gezwungen waren. Wir lernten von euch.
    Kleidung und Feuer, Waffen und Sprache, alles. Wir hatten nie etwas eigenes, wissen Sie. Wir liehen uns alles von den Ihren aus. Wir organisierten uns genauso, begannen nachzudenken und zu planen, und schließlich verschmolzen wir total mit ihnen, lebten in den Schatten der Welt, die Ihre Rasse gebaut hatte, und taten so, als wären wir von derselben Art; wir stahlen uns bei Nacht hinaus, um unseren Durst mit dem Blut Ihresgleichen zu stillen, und versteckten uns bei Tag aus Angst vor ihnen und ihrer Rache. Dies war die Geschichte meiner Rasse, des Volkes der Nacht, und zwar fast die ganzen Jahrtausende hindurch.
    Ich erfuhr alles von Simon, wie er es Jahre zuvor von denen erfahren hatte, die schon lange tot und vergangen waren. Simon war der älteste der Gruppe, die ich gefunden hatte, und behauptete, fast sechshundert Jahre alt zu sein.
    Ich hörte auch von anderen Dingen, die noch vor unserer mündlich überlieferten Geschichte lagen, in den ersten Dämmerstunden der Zeit überhaupt. Selbst dort erkannte ich den Einfluß Ihres Volkes, denn unsere Mythen stammten aus Ihrer christlichen Bibel. Brown, der einmal als Prediger aufgetreten war, las mir Passagen aus der Schöpfungsgeschichte über Adam und Eva und ihre Kinder, Kain und Abel, vor, über die ersten Menschen, die einzigen Menschen. Aber als Kain Abel erschlagen hatte, ging er in die Verbannung und nahm sich eine Frau aus dem Lande Nod. Wo sie herkam, wenn die anderen das einzige Volk der Erde waren, das erklärte die Geschichte nicht. Das machte dafür Brown: Nod sei das Land der Nacht und der Dunkelheit, sagte er, und diese Frau sei die Urmutter unserer Rasse. Von ihr und Kain stammen wir ab, und so sind wir die Kinder Kains, nicht die Schwarzen, wie einige von Ihrer Rasse es annehmen. Kain erschlug seinen Bruder und versteckte

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