Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
Vom Netzwerk:
allen Angehörigen unserer Rasse. Mesmer schrieb einmal vom animalischen Magnetismus, von einer seltsamen Kraft, die sich in allen lebendigen Dingen befindet, in einigen stärker als in anderen. Ich habe diese Kraft auch bei Menschen gesehen. Im Krieg können zwei Offiziere ihre Männer in einer geradezu selbstmörderische Mission schicken. Einer von ihnen wird für seinen Befehl von seinen eigenen Männern getötet. Während der andere, der in der gleichen Situation vielleicht die gleichen Worte benutzt, seine Männer dazu bringen kann, ihm bereitwillig in den sicheren Tod zu folgen. Bonaparte verfügte in hohem Maße über diese Kraft, wie ich annehme. Aber unsere Rasse besitzt diese Kraft am ausgeprägtesten. Sie schwingt in unseren Stimmen mit und ist vor allem in unseren Augen zu erkennen. Wir sind Jäger, und mit unseren Augen können wir unsere natürliche Beute einfangen und ruhig halten, können sie unserem Willen unterwerfen und sie manchmal sogar dazu bewegen, uns bei ihrer eigenen Tötung behilflich zu sein.
    Damals wußte ich davon noch nichts. Alles, was ich erkannte, waren Simons Augen, die Hitze darin, die Wut und das Mißtrauen. Ich konnte spüren, wie in ihm der Durst brannte, und dieser Anblick weckte in mir die tief verschüttete Blutlust wie eine Stimme, die mich rief, bis ich Angst bekam. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Er konnte es auch nicht. Wir schauten uns stumm an, umkreisten uns lauernd, die Blick ineinander getaucht. Mein Glas rutschte mir aus der Hand und zerschellte am Fußboden.
    Wieviel Zeit verstrich, kann ich nicht sagen. Aber schließlich schaute Simon zu Boden, und es war vorbei. Dann tat er etwas Seltsames und zugleich für mich Erschreckendes. Er kniete vor mir nieder und biß sich die eigene Pulsader auf, so daß das Blut herausströmte, und hielt mir die Hand entgegen, damit ich mich bedienen konnte. »Blutmeister«, flüsterte er dazu auf französisch.
    Das fließende Blut, in direkter Reichweite vor mir, ließ mir die Kehle trocken werden. Ich ergriff die Hand, zitternd, und begann mich hinabzubeugen. Und dann besann ich mich. Ich schlug ihn und wich zurück, und die Flasche stand auf dem Tisch vor dem Kamin. Ich schenkte zwei Gläser voll, leerte das eine und hielt ihm das andere hin, das er verständnislos anstarrte. »Trink«, befahl ich ihm, und er gehorchte. Ich war der Blutmeister, und mein Wort war Gesetz. Das war der Anfang, damals, 1826 in den Karpaten. Wie ich wußte, war Simon einer der beiden Gefährten meines Vaters gewesen. Mein Vater war Blutmeister gewesen. Nach seinem Tod hatte Simon, der stärker war als der andere, die Führung übernommen. Er führte mich in der darauffolgenden Nacht dorthin, wo er lebte, eine gemütliche Kammer, tief verschüttet in den Ruinen einer alten Bergfeste. Dort traf ich die anderen; eine Frau, die ich als die andere Hausangestellte aus meiner Kindheit erkannte, und zwei weitere Angehörige meines Volkes, die Sie Smith und Brown nennen. Simon war ihr Meister gewesen. Nun war ich es. Mehr noch, ich brachte ihnen auch die Freiheit vom roten Durst.
    So tranken wir und verbrachten viele Nächte gemeinsam, und von ihnen erfuhr ich die Geschichte und die Gewohnheiten des Volkes der Nacht.
    Wir sind ein altes Volk, Abner. Lange bevor Ihre Rasse im heißen Süden die ersten Städte erbaute, waren meine Vorfahren in den düsteren Wintern in Nordeuropa unterwegs und jagten. Unsere Überlieferungen besagen, daß wir aus dem Ural stammen oder auch aus den Steppen, und daß wir uns im Laufe der Jahrhunderte nach Westen und Süden ausgebreitet haben. Wir lebten in Polen, lange bevor es die ersten Polen gab, wir durchstreiften die deutschen Wälder vor dem Auftauchen der ersten germanischen Barbaren, wir herrschten schon vor den Tartaren über Rußland, vor Nowgorod dem Großen. Wenn ich sage alt , dann meine ich nicht Hunderte von Jahren, sondern Tausende. Jahrtausende verstrichen in der Kälte und Düsternis. Wir waren Wilde, erzählen die Geschichten, raffinierte nackte Tiere, eins mit der Nacht, schnell und tödlich und völlig frei. Von größerer Langlebigkeit als alle anderen Tierwesen, unmöglich zu töten, die Meister und Herren der Schöpfung. So lauten unsere Geschichten. Alles, was zwei oder vier Beine hatte, lief ängstlich vor uns davon. Bei Tag schliefen wir in Höhlen, als Rudel, Familien. Nachts herrschten wir über die Erde.
    Dann betrat von Süden her Ihre Rasse unsere Welt. Das Tagesvolk, uns so ähnlich und

Weitere Kostenlose Bücher