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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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daß die Gespräche verstummt waren. »Endlich sind wir wieder zusammen«, sagte Joshua mit ruhiger Stimme, »und dies ist ein neuer Anfang für uns, für das Volk der Nacht. Diejenigen, die zum Leben den Tag bevorzugen, können es den Anbruch eines neuen Morgens nennen.« Er lächelte. »Für uns wäre die Anspielung auf einen neuen Sonnenuntergang sicherlich eine zutreffendere Metapher. Hört mir gut zu! Ich will euch meinen Plan erklären.« Dann stand Joshua auf und begann mit ernster Stimme seinen Vortrag.
    Wie lange er redete, konnte Abner Marsh nicht sagen. Marsh hatte das alles schon mal gehört; die Befreiung vom roten Durst, ein Ende der Angst, das Vertrauen zwischen Nacht und Tag, die Vorteile, die sich aus einer Partnerschaft ergaben, die grandiose neue Ära. Joshua redete in einem fort, gewandt, leidenschaftlich, seine Rede war voller Gedichtfragmente und seltener großartiger Worte. Marsh achtete mehr auf die anderen, auf die Reihen blasser Gesichter am Tisch. Alle blickten auf Joshua, alle hörten ihm aufmerksam zu, alle schwiegen. Aber sie reagierten nicht auf die gleiche Weise. Simon schien ein wenig nervös zu sein und blickte ständig zwischen York und Julian hin und her. Jean Ardant folgte den Worten gebannt und hingebungsvoll, aber einige von den anderen Gesichtern waren ausdruckslos und kalt und schwer zu deuten. Raymond Ortega lächelte hinterhältig, und der große Mann namens Kurt runzelte die Stirn, Valerie wirkte nervös, und Katherine - sie hatte in ihrem schmalen harten Gesicht einen solchen Ausdruck totalen Abscheus, daß Marsh bei dem Anblick zusammenzuckte und jeden weiteren Blick vermied.
    Dann schaute Marsh über den Tisch dorthin, wo Damon Julian saß, und sah, daß Julian ihn unverwandt anstarrte. Seine Augen waren schwarz, hart und glänzend wie ein Stück bester Kohle. Marsh sah dort Schächte, endlose, bodenlose Schächte, einen Abgrund, der nur darauf wartete, sie alle zu verschlingen. Er hatte Mühe, die Augen abzuwenden, aber er wollte noch nicht einmal versuchen, sich auf ein Augenduell mit Julian einzulassen, so wie er vor langer Zeit im Planters’ House närrischerweise versucht hatte, York mit seinem Blick zu bezwingen. Julian lächelte, schaute wieder zu Joshua hoch, trank einen Schluck von seinem erkalteten Kaffee und hörte zu. Abner Marsh gefiel weder dieses Lächeln noch die bodenlose Tiefe dieser Augen. Plötzlich verspürte er wieder Furcht.
    Und schließlich beendete Joshua seine Rede und setzte sich nieder.
    »Der Raddampfer ist eine gute Idee«, meinte Julian freundlich. Seine leise Stimme war durch den ganzen Salon deutlich zu verstehen. »Ihr Getränk hat vielleicht sogar seinen Nutzen. Von Zeit zu Zeit sicherlich. Den Rest, lieber Joshua, den müssen Sie aber vergessen.« Sein Ton war freundlich, sein Lächeln entspannt und strahlend.
    Jemand sog zischend die Luft ein, aber niemand wagte es, ein Wort zu sagen. Abner Marsh straffte sich und saß kerzengerade. Joshua runzelte die Stirn. »Entschuldigung«, sagte er.
    Julian machte eine lässige, wegwerfende Handbewegung. »Ihre Geschichte macht mich traurig, lieber Joshua«, sagte er. »Nachdem Sie von Vieh umgeben aufgewachsen sind, denken Sie jetzt schon genauso. Das ist natürlich nicht Ihre Schuld. Sie werden schon bald die Wahrheit erfahren, und dann werden Sie Ihre wahre Natur feiern. Sie haben Sie verdorben, diese kleinen Tiere, zwischen denen Sie gelebt haben, sie haben Sie mit ihrer kleinmütigen Moral vollgestopft, mit ihren schwachen Religionen, mit ihren furchtsamen Träumen.«
    »Was reden Sie da?« Joshuas Stimme klang wütend.
    Julian gab ihm darauf keine direkte Antwort. Statt dessen wandte er sich an Marsh. »Captain Marsh«, sagte er, »dieser Braten, der Ihnen so gut gemundet hat, war früher einmal Teil eines lebendigen Tiers. Meinen Sie, daß dieses Tier, falls es reden könnte, damit einverstanden wäre, verspeist zu werden?« Seine Augen, diese bohrenden schwarzen Augen, waren auf Marsh gerichtet und forderten von ihm eine Antwort.
    »Ich ... zum Teufel, nein ... aber ...«
    »Aber Sie verzehren es trotzdem, nicht wahr?« Julian lachte fröhlich. »Natürlich tun Sie es, Captain, schämen Sie sich deswegen nicht?«
    »Ich schäme mich ja gar nicht«, sagte Marsh trotzig. »Es ist schließlich nur eine Kuh.«
    »Natürlich ist es das«, sagte Julian, »und Vieh bleibt nun mal Vieh.« Er sah wieder zu Joshua York. »Aber das Vieh sieht es vielleicht ganz anders. Das sollte jedoch unserem

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