Fiebertraum
er. Dann blickte er auf Katherine. »Nun, meine Liebe, wie viele Jahre ist es jetzt her? Wie viele endlose Jahre sind es wohl?«
Das Grinsen, das nun ihr aasgeierhaftes Gesicht erhellte, war für Marsh kaum zu ertragen. Er beschloß, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. »Setzen Sie sich!« bellte er Damon Julian an. Er zog ihn am Ärmel. »Ich habe Hunger, und wir haben mit dem Abendessen lange genug gewartet.«
»Ja«, sagte Joshua, und das brach den Zauber des Augenblicks, und jeder nahm wieder Platz. Doch Julian setzte sich auf Joshuas Sessel, auf den Platz am Kopfende der Tafel. Joshua kam heran und blieb vor Julian stehen. »Sie sitzen auf meinem Platz«, sagte er. Seine Stimme klang flach und angespannt. »Der Sessel dort ist für Sie bestimmt, Sir. Wenn Sie so freundlich sein wollen . . . « York zeigte zu der entsprechenden Stelle am Tisch. Seine Augen waren auf Damon Julian gerichtet, und Marsh blickte hinauf in Joshuas Gesicht und sah darin die Macht, die kalte Eindringlichkeit, die Entschlossenheit.
Damon Julian lächelte. »Aha«, sagte er leise. Er deutete ein Achselzucken an. »Pardon.« Dann, ohne Joshua York ein einziges Mal anzuschauen, erhob er sich und wechselte zu dem anderen Sessel hinüber.
Joshua nahm in starrer Haltung Platz und gab mit den Fingern ein ungeduldiges Zeichen. Ein Kellner eilte aus dem Schatten des Salons herbei und stellte vor York eine Flasche auf den Tisch. »Und jetzt verlassen Sie bitte den Raum«, wies Joshua den jungen Mann an.
Die Flasche wurde ausgewickelt. Unter den Kandelabern und inmitten der funkelnden Gläser und des Bestecks erschien sie düster und bedrohlich. Sie war bereits geöffnet worden. »Sie wissen, was das ist«, sagte Joshua York mit verhaltener Stimme zu Damon Julian.
»Ja.«
York streckte eine Hand aus, ergriff Julians Weinglas und schenkte ein. Er füllte das Glas bis zum Rand und stellte es vor den anderen Mann. »Trinken Sie!« befahl er.
Yorks Blicke ruhten auf Julian. Julian starrte das Glas an, und ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als wäre er an einem heimlichen Spaß beteiligt. Im großen Salon herrschte völlige Stille. In der Ferne hörte Marsh das schwache Hornsignal eines Dampfers, der durch den Regen stampfte. Dei Augenblick schien ewig zu dauern.
Damon Julian hob die Hand, nahm das Glas und trank. In einem einzigen tiefen Zug leerte er das Glas, und es war so, als sauge er gleichzeitig jegliche Spannung aus dem Raum. Joshua lächelte, Abner Marsh knurrte etwas, und unten, am anderen Ende des Tisches, tauschten andere wachsame, verwirrte Blicke aus. York füllte drei weitere Gläser und ließ sie an Julians Begleiter weiterreichen. Sie alle tranken. Murmelnd kamen einige Gespräche in Gang.
Damon Julian lächelte Abner Marsh an. »Ihr Dampfer ist wirklich sehr beeindruckend, Captain Marsh«, sagte er herzlich. »Ich hoffe, das Essen ist genauso exzellent.«
»Das Essen«, sagte Marsh, »ist besser.« Er brüllte einen Befehl, fühlte sich fast wieder in seinem Element, und die Kellner trugen das Festmahl auf, das Toby zubereitet hatte. Für mehr als eine Stunde wurde nur gegessen. Die Angehörigen des Nachtvolkes hatten feine Manieren, doch ihr Appetit war genauso ausgeprägt und gesund wie der eines jeden Flußmannes. Sie stürzten sich auf die Speisen wie eine Bande Schauerleute, die soeben den Ruf ›Essen fassen!‹ des Maats gehört hatten. Das heißt, alle außer Damon Julian. Julian aß langsam, fast geziert, und hielt häufig inne, um von seinem Wein zu trinken, wobei er ständig ohne einen ersichtlichen Grund lächelte. Marsh hatte bereits seinen dritten Teller geleert, und Julians Teller war noch immer halbvoll. Die allgemeine Unterhaltung war entspannt und launig. Diejenigen, die etwas weiter entfernt saßen, redeten leise und hitzig miteinander, daher konnte Marsh nicht verstehen, was sie sagten. In seiner Nähe äußerten Joshua York und Damon Julian sich wortreich über das Gewitter, die Hitze, den Fluß und die Fiebertraum . Solange sie nicht über seinen Dampfer sprachen, interessierte Abner Marsh sich nicht für ihre Unterhaltung und zog es vor, sich auf seinen Teller zu konzentrieren.
Schließlich wurden Kaffee und Brandy serviert, dann zogen die Kellner sich zurück, und die Hauptkabine des Raddampfers wurde nur noch von Abner Marsh und den Nachtschwärmern bevölkert. Marsh trank von seinem Brandy und hörte das Schlürfgeräusch, das er beim Trinken verursachte, ehe ihm bewußt wurde,
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