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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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die sich in jeder Ecke der dämmerigen Kabine sammelten. Vor den Fenstern war der Himmel dunkel und rot überhaucht. »Gottverdammt«, wiederholte er und stieg in eine saubere Hose. Er stampfte durch die Kabine und riß die Tür auf. »Was, zum Teufel, soll das heißen, daß man mich so lange schlafen läßt?« brüllte Marsh Jonathon Jeffers an. »Ich habe Hairy Mike angewiesen, mich eine ganze Stunde vor Sonnenuntergang zu wecken, verdammt noch mal!«
    »Es ist eine Stunde vor Sonnenuntergang«, sagte Jeffers. »Es hat sich bezogen, deshalb ist es so dunkel. Mister Albright meint, wir bekämen bald wieder ein Unwetter.« Der Zahlmeister trat in Marshs Kabine und schloß die Tür hinter sich. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, sagte er und reichte ihm einen Spazierstock aus Hickoryholz. »Ich fand ihn in der Hauptkabine, Cap’n.«
    Marsh nahm den Stock entgegen und war kurzzeitig besänftigt. »Den habe ich gestern abend verloren«, sagte er. »Ich hatte andere Dinge im Kopf.« Er lehnte den Stock an die Wand und schaute mit finsterer Miene wieder aus dem Fenster. Jenseits des Flusses war der Horizont eine Masse bedrohlicher Wolken, die auf sie zukamen wie eine riesige schwarze Mauer aus Finsternis, die auf sie zu stürzen drohte. Die untergehende Sonne war nirgendwo zu sehen. Ihm gefiel das nicht im mindesten. »Ich glaube, ich gehe lieber mal rauf zu Joshua«, meinte er, holte ein Hemd hervor und zog sich weiter an.
    Jeffers stützte sich auf seinen Stockdegen. »Soll ich Sie begleiten?« bot er sich an.
    »Ich muß allein mit Joshua reden«, sagte Marsh und band sich die Krawatte, während er mit einem Auge in den Spiegel schaute. »Ich freue mich nicht gerade darauf. Kommen Sie doch mit rauf, und warten Sie draußen. Vielleicht möchte Joshua Sie dabeihaben, wenn wir überlegen, was wir jetzt tun sollen.« Unausgesprochen blieb der andere Grund, weshalb Marsh den Zahlmeister in seiner Nähe haben wollte - vielleicht würde er ihn hereinrufen wollen, falls Joshua York die Nachricht von Damon Julians Ableben nicht allzu begeistert aufnahm.
    »Gut«, sagte Jeffers.
    Marsh schlüpfte in seine Kapitänsjacke und ergriff seinen Stock. »Los, gehen wir, Mister Jeffers! Es ist sowieso schon zu dunkel.«
    Die Fiebertraum dampfte zügig dahin, die Wimpel und Flaggen knatterten im Wind, und dunkler Qualm wallte aus den Schornsteinen. Im schwachen Licht des seltsamen dunkelvioletten Himmels sahen die Fluten des Mississippi fast schwarz aus. Marsh verzog das Gesicht und marschierte Seite an Seite mit Jeffers zu Joshua Yorks Kabine. Diesmal zögerte er nicht an der Tür; er hob seinen Stock und klopfte an. Beim dritten Klopfen rief er: »Joshua, machen Sie auf! Wir müssen miteinander reden!« Nach dem fünften Klopfen öffnete sich die Tür, schwang langsam nach innen in eine weiche stille Finsternis. »Warten Sie auf mich!« wies Marsh Jeffers an. Er betrat die Kabine und schloß die Tür. »Werden Sie jetzt nicht wütend, Joshua«, sagte er in die Dunkelheit, und seine Eingeweide krampften sich zusammen. »Ich wollte Sie nicht stören, aber diese Angelegenheit ist wichtig, und bald ist die Nacht angebrochen.« Es erfolgte keine Antwort, obgleich Marsh das Geräusch von Atemzügen zu hören glaubte. »Verdammt noch mal«, stieß er hervor, »warum müssen wir uns immer in der Dunkelheit unterhalten, Joshua? Das ist für mich verdammt ungemütlich.« Er runzelte die Stirn. »Zünden Sie doch mal eine Kerze an, ja?«
    »Nein.« Die Stimme klang kurz, tief und geschmeidig. Und sie gehörte nicht Joshua.
    Abner Marsh tat einen Schritt vorwärts. »O mein Gott, nein!« murmelte er, und ein Rascheln ertönte, während seine zitternde Hand die Tür hinter ihm ertastete und sie aufriß. Weit schwang sie auf, und mittlerweile hatten seine Augen sich an die Dunkelheit angepaßt, und selbst der purpurfarbene Schein des gewitterdunklen Himmels reichte aus, um den Schatten in der Kabine des Kapitäns Form zu verleihen. Er sah Joshua York ausgestreckt auf seinem Bett liegen, bleich und nackt, die Augen geschlossen und ein Arm bis auf den Fußboden herabhängend, und am Handgelenk war etwas, das aussah, wie ein schlimmer dunkler Bluterguß oder eine Kruste getrockneten Blutes. Und er sah Damon Julian auf sich zukommen, schnell und geschmeidig wie der Tod, und lächelnd. »Wir haben Sie doch getötet!« brüllte Marsh ungläubig, während er rückwärts aus der Kabine stolperte, mit den Füßen irgendwo hängenblieb und vor Jonathon

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