Fiebertraum
sagte Marsh. Er straffte sich. Der Morgen war bereits brütend heiß, denn die gelbe Sonne am Himmel schickte mit ihren Strahlen die ganze sengende Kraft auf den Fluß hinunter. Marsh war bereits in Schweiß gebadet. »Ich hatte nicht viel Schlaf«, meinte er. Er stieß ein krampfhaftes Lachen hervor. »Ehrlich gesagt, habe ich kein Auge zugetan. Und dann macht es sicherlich auch den stärksten Mann fertig, was wir gerade getan haben.«
Hairy Mike hob die Schultern. Es schien, als hätte es ihn nicht sehr mitgenommen. »Gehen Sie schlafen«, schlug er vor.
»Nein«, erwiderte Marsh. »Kann nicht. Ich muß zu Joshua. Und ihm erzählen, was wir getan haben. Er muß Bescheid wissen, damit er für die anderen bereit ist.« Plötzlich ertappte Abner Marsh sich bei der bangen Frage, wie Joshua York wohl auf den brutalen Mord an einem Angehörigen seines Volkes reagieren werde. Nach dem vorhergehenden Abend konnte er sich nicht vorstellen, daß Joshua davon tiefer berührt würde, aber ganz sicher konnte er sich nicht sein - er kannte dieses Nachtvolk so gut wie gar nicht und wußte nichts von seiner Denkweise, und wenn Julian ein Kindermörder und ein Blutsauger war, nun, die anderen hatten ähnlich schlimme Dinge getan, sogar Joshua. Und Damon Julian war auch Joshuas Blutmeister gewesen, der König der Vampire. Wenn man den König eines Mannes tötet - selbst wenn er diesen König haßt -, ist er dann nicht verpflichtet, darauf zu reagieren? Abner Marsh erinnerte sich an die kalte Gewalt von Joshuas Wut, und im Angesicht dieser Erinnerung hatte er nicht allzuviel Lust, zur Kapitänskabine auf dem Texasdeck hinaufzueilen, vor allem nicht in diesem Augenblick, wenn Joshua nach dem Gewecktwerden schlechtester Laune wäre. »Vielleicht kann ich damit auch noch etwas warten«, hörte Marsh sich sagen. »Und vorher etwas schlafen.«
Hairy Mike nickte.
»Aber ich muß trotzdem zuerst zu Joshua«, sagte Marsh. Ihm war jetzt richtig übel, begriff er: benommen, schlapp, fiebrig. Er mußte sich ein paar Stunden hinlegen. »Ich darf ihn nicht im ungewissen lassen.« Er befeuchtete sich die Lippen, die trocken waren wie Pergamentpapier. »Reden Sie mit Jeffers, erzählen Sie ihm, wie es gelaufen ist, und dann soll einer von euch mich vor Sonnenuntergang wecken. Aber wirklich vorher, verstanden? Damit ich mindestens eine Stunde Zeit habe, hinaufzusteigen und mit Joshua zu reden. Ich wecke ihn auf und berichte ihm alles, und wenn es dann dunkel wird, dann weiß er, wie er mit den anderen Nachtleuten verfahren muß. Und Sie . . . Lassen Sie einen Ihrer Jungs ein wachsames Auge auf Sour Billy werfen . . . Mit dem müssen wir uns auch noch etwas einfallen lassen.«
Hairy Mike lächelte. »Soll der Fluß sich doch mit ihm beschäftigen.«
»Das wäre eine Idee«, gab Marsh zu. »Vielleicht. Ich lege mich jetzt erst mal hin, aber sorgen Sie auf jeden Fall dafür, daß ich rechtzeitig wieder auf den Beinen bin. Auf keinen Fall darf ich bis in den Abend hinein schlafen, haben Sie verstanden?«
»Klar.«
So stieg Abner Marsh müde zum Texasdeck hinauf und fühlte sich mit jedem Schritt schlechter und erschöpfter. Als er vor der Tür der eigenen Kabine stand, durchzuckte ihn eine plötzliche Furcht: Was wäre, wenn einer von denen trotz allem dort auf ihn lauerte, trotz allem, was Mister Jeffers gesagt hatte? Aber als er die Tür aufstieß und das Licht in den Raum fluten ließ, da war er leer. Marsh stolperte hinein, zog die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster, um so viel Licht und frische Luft hereinzulassen wie nur möglich, dann schloß er die Tür ab und sank schwer auf das Bett, um die verschwitzte Kleidung auszuziehen. Er verzichtete sogar auf ein Nachthemd. Die Luft in der Kabine war drückend und schwül, aber Marsh war zu erschöpft, um es richtig wahrzunehmen. Der Schlaf übermannte ihn augenblicklich.
KAPITEL NEUNZEHN
An Bord des Raddampfers Fiebertraum Mississippi River, August 1857
D as beharrliche harte Klopfen an der Kabinentür holte Abner Marsh schließlich aus tiefem, traumlosem Schlaf. Er drehte sich benommen um und richtete sich in seinem Bett auf. »Einen Augenblick!« rief er. Er tastete sich zu seiner Waschschüssel wie ein großer nackter Bär, der soeben aus dem Winterschlaf aufgewacht war und darüber nicht allzu glücklich sein konnte. Erst als Marsh sich Wasser ins Gesicht spritzte, erinnerte er sich. »Gottverdammt noch mal!« fluchte er wütend und blickte in die grauen Schatten,
Weitere Kostenlose Bücher