Fiese Finsterlinge
sie aufgehört hatten, waren zerstückelt und schon halb verschwunden.
»Wurmoiden?«, wiederholte Sandy unsicher.
»Bücherwürmer«, sagte Lilli leise.
Sandy und Richie nickten. Lilli hatte völlig recht.
»Schau mal auf dein T-Shirt, Richie«, sagte Sandy.
Sie alle starrten darauf. Auf dem T-Shirt hatte »BÖSER BENGEL« gestanden, aber die Bücherwürmer hatten mehrere Buchstaben verschlungen, so dass nun nur noch »Ö ENGEL« darauf stand.
Richie verzog das Gesicht. »Na toll!«
»Sieh mal in deiner Hose nach«, sagte Lilli.
»Brauch ich nicht«, schimpfte Richie. »Du bist doch diejenige, die sich fast eingekackt hat!«
»Nein. Ich meine wegen der Würmer, die dir in die Hose gekrochen sind. Überprüf mal das Etikett.«
Sandy packte Richies Hose von hinten und drehte das Herstelleretikett nach außen. Die Wörter waren verschwunden.
»Die haben dir den Aufdruck vom Etikett der Unterhose gefressen.«
»Mann! Wie uncool! Das war ein Designerteil!«
Plötzlich hielt Richie inne und wand sich, dann schüttelte er sein linkes Hosenbein. Heraus fiel ein übrig gebliebener Wurm.
»Schnapp ihn dir!«, rief Lilli.
»Wen denn?«, fragte Sandy, die das Geschöpf nicht sah.
Richie stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf den fliehenden Wurm. »Hab ich dich!« Er hob die Hand, hielt das kleine Wesen zwischen den Fingern hoch. Es war schwarz-weiß, mit übertrieben kugelförmigen Segmenten und kreisrunden Augen mit einem schwarzen Punkt in der Mitte. Die schwarzen Beinchen, die aufgeregt hin und her wackelten, waren nur schlichte schwarze Linien.
»Oh, jetzt sehe ich ihn auch«, sagte Sandy.
»Er sieht aus wie eine Comiczeichnung«, bemerkte Lilli.
»Man ist, was man isst«, sagte Richie. »Und er hat sich durch ein Buch übers Comiczeichnen gefressen. Ist doch klar, dass er wie eine Comiczeichnung aussieht.«
Lilli und Sandy eilten zur nächsten Reihe von Büchern.
Genau in dem Moment sprang ein Dutzend Würmer aus einem Buch in der Nähe; ihre knallbunten Glupschaugen saßen schief am Kopf und blickten in unterschiedliche Richtungen.
»Sie sind dort, in der Picasso-Sektion!«, rief Lilli.
Sandy stürmte an das eine Ende des Ganges, Richie und Lilli ans andere.
»Ich kann sie nicht sehen«, rief Sandy. »In dem Gang liegt nur eine Dose Tomatensuppe.«
Lilli spähte hinüber und sah die rote Campbell’s-Suppendose an Sandy vorbeirollen. Sie seufzte. »Sie waren in der Andy-Warhol-Sektion!«
»Schnapp dir die Dose!«, brüllte Richie.
Sandy langte nach der vorbeirollenden Dose, aber als sie die Hand darum schließen wollte, löste das Metall sich in Tausende herumschwirrender Würmer auf, die in alle Richtungen davonhuschten.
»Sie werden sich neu formieren«, sagte Lilli und trottete zu Sandy hinüber, die mit leeren Händen wütend am Ende des Ganges stand.
»Wie kann es sich bei einer fest organisierten Gruppe von Comicinsekten, die sich systematisch durch das Dewey-Dezimalsystem arbeiten, um Chaos handeln?«, fragte Sandy.
Lilli deutete auf die Bücher. »Wenn man Chaos verursachen will, bestünde eine gute Möglichkeit darin, Informationen zu eliminieren, richtig?«
»Okay«, sagte Sandy. »Dann scheinen sie also das Ordnungsprinzip der Bibliothek zu benutzen, um maximales Chaos anzurichten. Hast du gesehen, wo sie hin sind, Richie?«
»Na ja, sie stürzten in meiner Hose hinunter, dann haben sie sich durch die berühmten Maler gefressen. Da lang, glaub ich.« Er deutete die Rampe hinauf.
Sandy keuchte erschrocken auf. »Die legendäre Seattle-Sammlung. Kommt schon!« Sie stürmte zur Rampe.
Richie zögerte, überlegte. »Wir treffen uns oben«, sagte er schließlich. Er versetzte dem Comic-Bücherwurm, den er in seiner Tasche festhielt, einen Stupser, packte das Skateboard und schoss die Rampe hinunter.
»Wo willst du hin?«, rief Sandy ihm nach, aber es war zu spät. Richie war verschwunden. Sandy schnaubte verärgert,
dann rannte sie die Rampe hinauf, den Würmern hinterher.
Lilli blickte nach unten in Richtung Richie, dann nach oben zur davoneilenden Sandy. Plötzlich war sie ganz allein im sechsten Stock. Die Bücherwürmer waren eklig und unheimlich. Sie spürte es immer noch auf der Haut, wo die kleinen Kerle über sie hinweggekrabbelt waren. Sie wollte nicht allein sein.
»Warte auf mich«, rief sie und rannte Sandy hinterher.
Als Lilli den zehnten Stock erreichte, sah sie, wie Sandy sich an einer Plexiglaswand hochhangelte, hinter der sich die Seattle-Sammlung befand.
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