Fifth Avenue--Ein Thriller (German Edition)
Leana oder mir irgendetwas
zustößt, wird das der größte Fehler deines Lebens sein – das schwöre ich
beim Grab meiner Mutter.”
* * *
Als
Leana beim Obdachlosenheim in der Prince Street angekommen war, sah sie, dass
es überfüllt war mit Männern, Frauen und Kindern. Freiwillige schenkten heißen
Kaffee aus und verteilten belegte Brote, Suppe und Brötchen. Neonlichter
flackerten und summten und warfen ein harsches Licht auf eine noch harschere
Wirklichkeit.
Sie
ging in den hinteren Teil des Heims, setzte sich an den einzig freien Tisch und
beobachtete den Eingang. Sie wollte Mario sehen, wenn er hereinkam, wollte
verfolgen, wie er auf sie zukam, wollte die Sicherheit spüren, die seine
Gegenwart bringen würde. Erst dann würde sie sich einigermaßen sicher fühlen.
Als
sie so dasaß, dachte sie an Michael und fragte sich – wie schon so oft im
Verlauf dieses Tages –, wo er wohl steckte und weshalb er sie nicht
angerufen hatte oder in der Wohnung vorbeigekommen war. Obschon nur ein einziger Tag vergangen war, seitdem
sie zusammen waren, war sie erstaunt darüber, wie sehr sie ihn vermisste.
Eine
Frau mit einer Kanne heißen Kaffees und einer Tüte mit Styroporbechern blieb an
ihrem Tisch stehen und setzte sich hin. „Du bist neu hier,” sagte sie. „Mein
Name ist Karen. Herzlich willkommen.”
Leana
fühlte sich befangen. Sie gehörte nicht hierher. Ihr Vater war einer der
reichsten Leute im Land. Diese Frau sollte ihre Zeit denjenigen widmen, die
ihre Zuwendung brauchten. „Danke sehr,” sagte sie.
„Willst
du einen Kaffee? Dir muss in diesen nassen Klamotten doch kalt sein.”
„Nein,
danke,” sagte Leana. „Ich möchte dir keine Umstände machen.”
„Überhaupt
keine Umstände. Hier. Ich schenk dir ein.”
„Aber
deswegen bin ich nicht hier. Ich bin hier, weil ich jemanden treffen möchte.”
Die
Frau hob den Kopf. Leana sah, dass ihr ihre teuren Kleider ins Auge fielen, die
diamantenbesetzte, goldene Armbanduhr, die Harold ihr zu Weihnachten geschenkt
hatte, und plötzlich wünschte sie, sie wäre anderswo.
„Ich
verstehe,” sagte die Frau. Sie schenkte Leana trotzdem einen Becher Kaffee ein
und hielt ihn ihr hin. „Pass auf,” sagte sie. „Wir haben alle unsere Probleme.
Wenn es dir unangenehm ist, das hier zu akzeptieren – und das sollte es
nicht sein –, dann kannst du beim Hinausgehen vielleicht eine kleine
Spende machen. Aber das liegt ganz bei dir. Der Kaffee wird dich wieder
aufwärmen, und das – wenn auch sonst nichts – macht mich glücklich.”
Sie
stand auf. „Wie wär’s mit einer Decke, während du auf deinen Freund wartest?”
Leana
war von der Fürsorge der Frau angetan. „Eine Decke hätte ich gerne,” sagte sie.
Als
sie wieder alleine war, sah sie sich in dem Heim ein wenig genauer um. Leana
wusste, dass viele dieser Leute heute zum ersten Mal etwas zu essen hatten. In
einer Ecke erblickte sie einen der Freiwilligen, der einem kleinen Kind ein Bad
gab, während die Mutter – mit ihren anderen beiden Kindern beschäftigt
– zuschaute. Sie fragte sich, wo diese Frau und ihre Kinder heute Nacht
wohl schlafen würden. Hatten sie ein Bett im Heim, oder mussten sie später
wieder auf die Straße?
Sie
nahm einen Schluck Kaffee und wusste, dass Mario sie absichtlich hier hatte
treffen wollen. Selbst jetzt, wo ihr Leben bedroht war, ließ er sie nicht
vergessen, wie gut es ihr doch ging.
Als
die Frau mit der Decke zurückkehrte, wickelte Leana sie sich um die Schultern,
dankte ihr und fragte: „Wo gehen diese Leute nachts hin, nachdem sie mit dem
Essen fertig sind?”
Die
Frau lehnte sich gegen den Tisch. „Um diese Zeit sind alle Heime voll,” sagte
sie. „Sie kehren wahrscheinlich an ihre Plätze auf der Straße zurück.”
Leana
schaute durch den Raum. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jene Frau und
deren Kinder allein auf der Straße schlafen würden. „Wie überleben die da
draußen? Wie leben die?”
„Viele
überleben nicht da draußen. Viele leben nicht.”
Die
Frau sagte das so nüchtern, dass Leana sprachlos war. „Diese Kinder dort drüben
mit jener Frau. Gehen die zur Schule?”
„Manche
ja, wenn auch nur deshalb, weil sie dort ein kostenloses Frühstück und
Mittagessen erhalten. Ihre Mütter verlassen sich darauf. Aber selbst wenn sie
nicht zur Schule gehen, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht klug sind.
Jedes Kind in diesem Saal – mit Ausnahme der kleineren – kommt
alleine zurecht.
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