Fifth Avenue--Ein Thriller (German Edition)
Ich werde mich an einem deiner Martinis versuchen. Bist du sicher,
dass du keinen möchtest?”
Leana
sagte, dass sie sicher sei, und beobachtete, wie der beste Freund ihres Vaters
zur Bar auf der entgegengesetzten Seite der Bibliothek ging. Er kam ihr magerer
vor. Bei der Eröffnung des Redman International-Gebäudes schien er einen Moment
lang erschöpft und im nächsten voller Leben. Sie fragte sich erneut, ob er
krank sei, oder ob die Belastung durch die Übernahme von WestTex sich bei ihm
lediglich bemerkbar mache. Sie wollte es gerade ansprechen, überlegte es sich
dann aber anders und durchstreifte mit einem langen Blick die Bibliothek. Das
war ohne Frage ihr Lieblingszimmer im ganzen Haus.
Seine
lange Reihe von Fenstern, die vom Flur bis zur Decke reichten, gab den Blick
auf die Fifth Avenue bis zum Metropolitan frei, auf dessen weitläufigen Stufen
sich die Leute gerade drängten. Das Gebäude sah in der Sonne golden aus. Sie
drehte sich um und gewahrte die zahlreichen Fotografien, die in ihren silbernen
Rahmen auf dem Tisch neben ihr standen. Außer den Bildern von seiner eigenen
Familie waren dort zwei Fotos von ihr; eins als Kind und das andere vom letzten
Sommer in einem Café in Paris. Auf dieser Reise waren nur sie und Harold; sie
verbrachten ein langes Wochenende in ihrer Lieblingsstadt.
Daneben
stand die Degas-Skulptur, die sie für ihn in London ersteigert hatte. Es war
eine Ballerina; ihre Füße waren in der fünften Position, ihre Hände bildeten
einen Kelch auf ihrem Rücken, und sie hatte die rosafarbene Originalschleife im
Haar. Eine Woche vor der Auktion hatte Harold erwähnt, dass er diese besondere
Skulptur nur zu gerne besäße, da sie ihn an Leana erinnerte, die als Kind
Ballettstunden genommen hatte. Als sich Harold jetzt in den Sessel ihr gegenüber
setzte, spürte Leana wiederum, wie viel er ihr bedeutete und um wie viel
vetrauter sie mit ihm war, als mit irgendjemandem sonst.
„Ich
möchte, dass du zum Arzt gehst,” sagte Harold.
„Darum
könnte ich dich auch bitten.”
„Was
willst du damit sagen?”
„Ich
will damit sagen, dass du nicht gut aussiehst. Das habe ich dir am Abend der
Party schon gesagt.”
„Und
ich erinnere mich daran, dir gesagt zu haben, dass es mir gut geht.”
„Dann
erklär mir, warum du soviel abgenommen hast.”
„Ich
wurde fett,” sagte er. „Und erzähl mir nicht, du hast das nicht bemerkt. Ich
schränke alles ein – bis auf Martinis und Oliven. Und dann ist da noch
die Sache mit WestTex, was uns alle an die Wand drückt. Wer hat da noch Zeit
zum Essen?”
Das
konnte sie glauben, und sie verfolgte die Sache nicht weiter. „Ich mache mir
nur Sorgen,” sagte sie.
„Und
das freut mich sehr, aber nun ist es an mir, mich um dich zu sorgen. Du bist
momentan mein einziges Anliegen. Ich möchte, dass du einen Arzt konsultierst.”
„Er
hat mir nichts gebrochen. Das sind nur Blutergüsse. In einer Woche oder so sind
die verschwunden.”
Frustriert
schüttelte er den Kopf. „Bist du ein Roboter?” fragte er. „Hat dir jemand die
Drähte in deinem Gehirn durchgeschnitten? Ich kann nicht verstehen, wie du das
wegsteckst. Dieser Mann schlägt dich grün und blau mit seinem Gürtel, und du
sitzt hier und tust, als wäre alles in Ordnung, und erzählst mir, deine
Blutergüsse werden in einer Woche oder so abgeklungen sein. Das ist
unglaublich. Bist du nicht wütend?”
Die
Frage war lächerlich.
„Er
hat versucht, dich zu vergewaltigen,” drängte Harold. „Womöglich hätte er dich
umgebracht, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte.”
„Er
hat mir auch damit gedroht, mich umbringen zu lassen. Muss ich dich etwa daran
erinnern?”
Harold
winkte ab. „Eric Parker würde sich nie getrauen, so etwas zu tun.”
„Und
wenn doch? Du warst nicht da, Harold. Ich habe sein Gesicht gesehen. Er meinte
das im Ernst.”
„Unsinn,”
sagte er. „Dieser kleine Scheißer ist ein Schlappschwanz.”
„OK,”
sagte sie. „Du hast während der vergangenen zehn Sekunden allerlei vulgäre
Ausdrücke verwendet. Könntest du vielleicht weniger anstößige Wörter benutzen?”
Er
wusste, dass sie nur versuchte, die Stimmung ein wenig aufzulockern, aber
Harold wollte nichts davon wissen. Er stand auf und mixte sich einen zweiten
Drink, obschon er den ersten noch nicht ausgetrunken hatte.
Leana
sah zum Fenster hinaus. Warum konnte er sie nicht verstehen? Sie tat ihr
Bestes, um mit dieser Situation fertig zu werden. Sie versuchte, das
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