Fifth Avenue--Ein Thriller (German Edition)
eine Straße hinunter, die nicht gefegt, sondern mit Abfall übersät war.
Sie gingen an Gruppen von Männern und Frauen vorbei, denen nicht der Wohlstand,
sondern die Armut im Gesicht geschrieben stand. Sie passierten Bandenmitglieder
und Drogenhöhlen, schwangere Kinder und deren junge Freunde. Und dann fiel es
Leana wie Schuppen von den Augen, dass sie und Mario die einzigen Weißen weit
und breit waren.
Die
Gegend war ein Schmelztigel von Haitianern, Chinesen, Afro-Amerikanern,
Puerto-Ricanern, Thailändern, Kubanern, Koreanern und Albanern. Hier war die
Dritte Welt. Sie fasste Marios Hand und hielt sie fest in der ihren. Sie
näherten sich einem Haufen von Frauen. Alle waren von mittlerem Alter, arm und
wütend auf ein System, das an ihnen versagt hatte. Ihre Augen schienen sie zu
verschlingen, als sie weiter auf sie zukam.
Leana
fragte sich, warum sie sich so bedroht fühlte. Sie hatte diesen Frauen nichts
getan. Ihr Elend war nicht ihre Schuld. Sie sollte ihnen direkt in die Augen
schauen können.
Aber
sie konnte sie nur mit einem flüchtigen Blick streifen, als sie an ihnen
vorüberging.
„Hast
du genug gesehen?”
Leana
fiel das sarkastische Lächeln auf seinen Lippen auf, der Anflug von Spott in
seinen Augen und ließ seine Hand los. „Ich habe genug gesehen,” sagte sie.
„Aber ich möchte dich etwas fragen, Mario. Wie kommst du dazu, mich zu
verurteilen, wenn deine beschissene Familie dafür bekannt ist, Leute
umzubringen?”
Mario
errötete. „Womit meine Familie ihr Geld verdient, hat nichts mit mir zu tun.”
„Genau,”
sagte Leana. „Womit mein Vater sein Geld verdient, hat nichts mit mir zu tun.
Du kannst dir also deine herablassende Haltung sonstwohin stecken, denn mir
hängt zum Hals raus, mir ständig von dir vorhalten zu lassen, wie verzogen und
oberflächlich ich bin, obschon du kein bisschen besser bist als ich.”
„Ich
habe nie behauptet, dass du verzogen oder oberflächlich bist.”
„Vielleicht
nicht so direkt, aber dein Verhalten hat es ganz bestimmt getan. Warum sollten
wir sonst hier sein?” Sie ließ ihn stehen, winkte einem Taxi und war weg, noch
bevor er etwas erwidern konnte. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander
gesprochen.
Als
sie nun diese Kinder sah und sich deren Zukunft vorstellte, bedauerte Leana das
alles. Es hatte eine Zeit gegeben, als sie einfach einen Scheck hätte
ausstellen und das Geld von ihrem Konto – das ihr Vater immer reichlich
angefüllt hielt – abheben können, um seiner Sache zu helfen. Aber sie
hatte es nicht getan. Warum eigentlich nicht?
Natürlich
war er pünktlich. Schon von weitem sah sie seinen Wagen die Straße
herunterkommen und war kein bisschen überrascht , dass es dasselbe Auto war,
das er auch vor zwei Jahren hatte. Hier hatten wir einen Mann, der eine
Ferrari-Flotte besitzen konnte, und dennoch fuhr er einen einfachen schwarzen
Ford Taurus.
Er
hielt neben ihr an. Leana justierte ihre Sonnenbrille und hoffte, man könne die
Blutergüsse um ihre Augen nicht sehen. Allerdings wusste sie, dass sie auf
ihrem Gesicht erkennbar waren – wenngleich nur schwach. Sie wollte nicht,
dass er sie sah. Zumindest noch nicht.
Er
stieg aus dem Auto, schaute sie mit diesem typischen Grinsen von der Seite her
an, und sie spürte dieselbe Erregung, die sie vor Jahren gespürt hatte, als sie
sich auf einer Abendgesellschaft eines gemeinsamen Freundes kennen gelernt
hatten. Er sah noch genauso aus. Sein Haar war so dick, schwarz und gelockt wie
ihres. Es war nur um eine Kleinigkeit zu lang, aber es half, sein eckiges Kinns
abzuschwächen. Sein Körper – dieser Körper – schien athletischer
als je zuvor. Mario De Cicco, der
Sohn von Antonio Gionelli De Cicco, capo
di capi des New Yorker Syndikats, war genauso scharf, wie sie ihn in
Erinnerung hatte.
Er
ging um das Auto herum, drückte sie fest an sich und küsste sie auf beide
Wangen.
„Ich
freue mich, dich zu sehen,” sagte er. „Wie lange ist das nun her? Ein Jahr?”
„Zwei
Jahre,” sagte sie. „Und viel ist in der Zwischenzeit passiert.”
„Dann
lass und essen gehen und Versäumtes nachholen. Ich möchte, dass du mir alles
erzählst – und ganz besonders, warum dein Gesicht so angeschwollen ist.”
Als
sie abfuhren, sah sich Mario um. „Das ist ein großartiger Ort, nicht wahr?”
sagte er. „Ich habe ihn extra für dich ausgewählt.”
„Was
für eine Überraschung.”
Er
deutete auf eine der Mietwohnungen der Straße gegenüber. „Das ist
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