Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
Inneren wie zusammengefaltete Libellenflügel, und es war in gutem Zustand. Vertäut war es an einem überhängenden Zweig.
Ganz plötzlich war Quentin wie gelähmt, mental erstarrt. Er hatte das Gefühl, dass keine Macht der Welt ihn dazu bringen konnte, an dem Boot vorbeizugehen, sondern dass er einsteigen müsse. Er würde einsteigen, den Rückzug antreten und hinüber auf die andere Seite der Insel rudern, wo seine Freunde warteten. Zwar würde die Schwertwunde ihn behindern, aber nicht davon abhalten. Quentin stand wie angewurzelt da, unfähig, sich zu bewegen. Niemand konnte ihn der Feigheit bezichtigen, im Gegenteil: Es wäre tollkühn, weiterzugehen, egoistisch sogar.
Er löste bereits das Tau von dem Ast, wobei er die linke Hand benutzen musste, weil er die rechte nicht über den Kopf heben konnte, als ein bleiches Gesicht am Ende des Strandes erschien. Ein weiterer Soldat.
Es war unheimlich, wie lange sie beide brauchten, bis sie reagierten. Quentin wollte nicht wahrhaben, dass der Mann ihn sah oder wenn, dass er ihn als Eindringling betrachtete, doch trotz des schwächer werdenden Lichts war beides gleich unwahrscheinlich. Eine kalte Welle schwappte über Quentins Fuß.
Wenn der Mann losgerannt wäre und Alarm geschlagen hätte, wäre das das Ende gewesen. Doch das tat er nicht. Stattdessen näherte er sich – er marschierte am Strand entlang auf Quentin zu und zog dabei ein kurzes, breites Schwert, der Zwilling dessen, welches Quentin trug. Wahrscheinlich wollte jeder gern ein Held sein. Quentin nahm an, dass er nicht besonders furchterregend aussah.
Doch der Schein trog. Quentin steckte das Schwert des ersten Soldaten mit der Spitze in den Boden und ging in Angriffsposition.
Kinetik war seine Stärke, und er besaß von Natur aus ein gutes Körpergefühl. Schnell flüsterte er einen Zauberspruch aus einem Brakebills-Seminar, an das er sich seit mindestens fünf Jahren nicht mehr erinnert hatte. Er hielt beide Hände mit den Handflächen nach oben dem Soldaten entgegen und winkte mit ihnen auf und ab, als verscheuche er Tauben. Da erhoben sich die schwarzen Steine am Strand alle auf einmal, flogen in einem dunklen Strom auf den Mann zu wie ein Schwarm wütender Bienen und trafen ihn laut klappernd an Brust und Kopf. Es war ein Geräusch, als kippe ein Kieslaster seine Ladung ab. Verwirrt drehte sich der Mann um und versuchte zu fliehen, doch schon nach wenigen Schritten stürzte er, wurde unter Steinen begraben und verlor das Bewusstsein.
Na also. Quentin hatte jegliche Angst abgeschüttelt. Die Schmerzen waren verschwunden, die Trägheit vorbei. Er konnte sich wieder frei bewegen. Er schaffte es, an dem Boot vorbeizugehen. Er war schon sein ganzes Leben lang frei gewesen. Wenn er es nur gewusst hätte!
Er ging zu dem halb unter Steinen verborgenen Mann. Ein warmer, schwüler Wind wehte vom Meer herein. Quentin trat einige Steine vom Gesicht des Mannes weg und enthüllte ein schmales, sonnenverbranntes, von Aknenarben entstelltes Gesicht. Der war fürs Erste ausgeschaltet. Quentin nahm sein Schwert und warf es so weit er konnte ins Meer. Es sprang einmal, zweimal über die Wasseroberfläche und versank.
Quentin hob einen kleinen, flachen Kiesel auf und steckte ihn in die Hosentasche.
Ein schmaler, gewundener Pfad führte vom Ende des Strandes aus durch die Bäume zum nahe gelegenen Wachturm. Es ging steil bergauf, und er beugte sich nach vorn, damit die Wunde nicht so brannte. Seine einzige Befürchtung war jetzt, an Schwung zu verlieren. Im Geiste wiederholte er Zauberformeln, ohne sie anzuwenden, und spürte dabei, wie sich Energie auf- und wieder abbaute.
Der runde Wachturm lag oben an einem steilen Hang, so dass sogar das Untergeschoss noch über ihm lag, als er ganz hinaufgeklettert war. Er legte eine Hand auf die alten, freiliegenden Fundamente. Wer den Turm wohl erbaut hatte? Die Steine fühlten sich kühl und dauerhaft an. Wer hatte sie so sorgfältig und elegant vermauert und aus rechteckigen Backsteinen einen fast vollkommenen Kreis geformt? Wer verbarg sich im Inneren der Mauern? War er gezwungen, diese Menschen zu verletzen oder gar zu töten, nur weil das Schicksal, Ember oder wer oder was auch immer sie ihm in den Weg gestellt hatte? Er konnte ja wohl kaum die ganze lebenserhaltende Scheiße die ganze Nacht lang durchziehen. Aber reichte es denn aus, dass einer oder besser: zwei von denen versucht hatten, ihn zu töten? Wobei einer ihn ja tatsächlich mit dem Schwert aufgespießt
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