Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
hatte.
Genug gegrübelt. Manchmal hatte er das Gefühl, immer nur nachzudenken, wo andere längst handelten. Das würde er jetzt vorübergehend ändern. Mal sehen, wie sich das anfühlte.
Er verwendete fünf Minuten auf ein schweigendes Ritual, das dazu dienen sollte, seine Sinne zu schärfen, jedenfalls in der Theorie, obwohl er es seit der Schulzeit nicht mehr angewandt hatte und auch damals nie nüchtern. Am aussichtsreichsten erschien ihm, die Mauer hinaufzufliegen und die Leute im Inneren von oben zu überraschen, wer immer sie waren. Doch die Kunst zu fliegen erforderte erstaunlich große Zauberkraft, und Quentin befürchtete, anschließend nicht mehr genügend Energie zum Kämpfen zu haben. Andererseits hatte diese Taktik echt Stil. Nichts verlieh einem mehr das Gefühl, ein großer Zauberer zu sein, als sich aus eigener Kraft in die Lüfte zu schwingen. Yippieyayey, Schweinebacken!
Und schon erhob er sich in die Abenddämmerung. Das uralte Gemäuer rauschte im Halbdunkel vor seinen Augen vorbei. Alles geschah vollkommen geräuschlos. Schon breitete sich durch die Anstrengung ein hohles Gefühl in Quentins Brust aus. Er spürte weniger eine Schwerelosigkeit als ein Getragenwerden, als würde er an den Schultern emporgezogen, ohne eine Berührung zu fühlen. Wie ein Baby, das von Rieseneltern hochgehoben wurde. Wo ist der brave Junge?
Quentins lange Beine hingen herunter, als er die Baumwipfel überwand. Er wünschte, die anderen könnten ihn sehen. Mit ausgebreiteten Armen schoss er über die Turmbrüstung, in der einen Hand das gestohlene Schwert, die andere in der Dunkelheit knisternd vor violetter Hexenkraft. In letzter Sekunde zog er ein Bein an wie die Superhelden in den Comics.
Der Mann auf dem Dach – blonde Haare, Hasenzähne – hatte gerade noch genug Zeit, vor Schreck seine vor- und zurückschwingenden Arme stillzuhalten, den Kopf in den Nacken zu werfen und die Augen zusammenzukneifen. Schon streckte Quentin zwei Finger nach ihm aus, aus denen tiefindigofarbene Blitze zuckten, die den Mann an der Stirn trafen und ihn zu Boden warfen. Die Blitze prallten ab und verloren sich im Nirgendwo. Quentin hatte viel Zeit gehabt, Pennys alten magischen Raketenzauber zu perfektionieren. Glatt und präzise wandte er ihn an, garniert mit leuchtenden Special Effects. Der Kopf des Mannes schlug zurück und dann wieder nach vorn, und er fiel auf alle viere. Ein zweiter Schuss in die Rippen streckte ihn seitlich nieder.
Drei erledigt. Quentin landete leicht auf dem Steindach, das von einer niedrigen Brüstung umgeben war. Wieder empfand er deutlich das Fehlen eines Soundtracks. Dort oben stand ein Geschoss, eine gedrungene schwarze Kanone mit einer säuberlich aufgeschichteten Kugelpyramide daneben. Quentin holte den Stein aus der Hosentasche, den er am Strand aufgehoben hatte, zog den Dolch aus dem Gürtel der bewusstlosen Wache – es war seine einzige Waffe – und kratzte eine Rune in den Stein. Das Zeichen war kompliziert, aber Quentin sah es im Geiste vor sich, ja, er sah deutlich die Buchseite, auf der er es entdeckt hatte, eine linke Seite. Er musste das Zeichen nicht haargenau treffen, mit geraden Strichen und exakten Winkeln, aber die Struktur musste stimmen. Die Topologie durfte man nicht verhunzen.
Als er fertig war, nachdem er die letzte mit der ersten Linie verbunden hatte, spürte Quentin die Verbindung durch ein Ziehen im Bauch. So war es gut. Die Kraft war in den Stein eingeschlossen. Er vibrierte und zuckte in seiner Hand, als sei er lebendig.
Quentin wartete einen Moment lang oben an der Treppe. Wenn er den Stein einmal geworfen hatte, gab es kein Zurück mehr, keinen unauffälligen Rückzug. Die warme Meeresbrise wehte unter dem dunkelnden Himmel über ihn hinweg. Der Wind frischte auf und trieb kleine Wellen an den Strand. Ein Sturm zog auf. Besorgt dachte Quentin an den Mann am Strand. Angenommen, die Flut kam? Ach was, das Wasser würde ihn schon wecken, bevor er ertrank.
Aus dem Augenwinkel heraus nahm Quentin ein schnelles, geräuschloses Flackern von blauweißem Licht wahr. Es kam vom anderen Wachturm, jenseits des Hauptgebäudes, durch die Bäume hindurch – genauso, als hätte jemand den Blitz eines Fotoapparates ausgelöst. Quentin spähte blinzelnd in die Dunkelheit. War er entdeckt worden? Oder hatte er sich das Lichtsignal nur eingebildet? Die Sekunden dehnten sich. Zehn, zwanzig. Quentin entspannte sich wieder.
Da barst der zweite Turm auseinander. Etwas Heißes,
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