Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
schwachen Kräfte, die deine Wachsflügel in fester Form halten, und schon stürzt du hinunter ins Meer. Kein Feuer für dich. Und dann hast du noch Glück gehabt. Wenn du Pech hast, endest du wie Prometheus, und Adler fressen bis in alle Ewigkeit an deiner Leber.«
»So könnte es enden«, gab Falstaff zu. »Aber denk an die Ausnahmen.«
»Zum Beispiel ist nicht jeder so ein Vollidiot, seine Flügel aus Wachs zu formen«, warf Aschmodai ein.
Rasch erklärte Falstaff Julia das riesige Diagramm auf dem Tisch vor ihnen und zog mit seinen dicken weichen Fingern Bögen und Verbindungen. Das Diagramm zeigte die wichtigsten Erzählungen der großen und kleinen Religionen, kollationiert, mit Querverweisen versehen und farbig markiert, um Bereiche hervorzuheben, an denen sie einander überlappten und bestätigten. Wenn man ein Nerd durch und durch war, gab es wohl nichts, was man nicht auf einer Flowchart darstellen konnte.
»Das Hybris-Szenario, bei dem ein Mensch aus Stolz die Götter herausfordert und seine Anmaßung mit dem Tod bezahlen muss, ist nur eines von vielen Motiven. Dabei kann das schlimme Ende oft durch eine mangelnde Vorbereitung der Protagonisten erklärt werden und erlaubt nicht die endgültige Schlussfolgerung, Sterbliche könnten niemals Zugang zu göttlicher Macht erlangen.«
»Hm«, brummte Julia. »Theoretisch zumindest.«
»Nein, nicht nur theoretisch«, unterbrach Aschmodai sie schneidend. »Auch praktisch. Dafür gibt es historische Quellen. Technisch gesehen wird der Vorgang als Himmelfahrt bezeichnet, manchmal auch lateinisch als Ascensio. Ich persönlich bevorzuge Translatio. Alle Begriffe bedeuten dasselbe: Ein Mensch wird körperlich in den Himmel transportiert, ohne dass er stirbt, und erhält dabei einen gewissen göttlichen Status. Dann gibt es noch die Apotheose, bei der ein Mensch zum Gott wird. Das hat sich zigmal ereignet!«
»Nenne mir ein paar Beispiele.«
Aschmodai zählte an den Fingern ab: »Maria, die Mutter Jesu. Sie wurde als Sterbliche geboren und am Ende zur Heiligen. Galahad in der Artus-Sage. Er war Lancelots Sohn, fand den Heiligen Gral und wurde unmittelbar in den Himmel aufgenommen. Genau wie Enoch, ein früher Nachfahre Adams.«
»Man könnte auch einige chinesische Generäle dazuzählen«, übernahm Gummidgy. »Guan Yu. Fan Kuai. Die Acht Unsterblichen des Taoismus.«
»Dido, Buddha, Simon Magus…«, fiel Pouncy ein. »Und so weiter.«
»Denk auch mal an Ganymed«, sagte Aschmodai. »In der griechischen Legende. Er war ein Sterblicher, aber von solch großer Schönheit, dass Zeus ihn hinauf in den Olymp brachte, um sein Mundschenk zu werden. Nach ihm haben wir das Projekt benannt.«
»Wobei wir glauben, dass Mundschenk wahrscheinlich ein Euphemismus war«, ergänzte Falstaff.
»Ach, echt?«, fragte Julia. »Wie auch immer, ich verstehe, was ihr meint. Nicht jeder endet wie Ikarus. Aber das sind doch alles nur Geschichten. Auch in
Highlander
kommen Unsterbliche vor, aber das heißt noch lange nicht, dass es sie wirklich gibt.«
»Das sind aber keine Götter«, erwiderte Falstaff. »Mensch, hast du dir den Film mal angeschaut?«
»Die Menschen in der Mythologie waren außerdem keine gewöhnlichen Sterblichen, sondern alle in irgendeiner Weise etwas Besonderes. Wie du eben schon sagtest, war Enoch ein direkter Nachkomme Adams.«
»Und, bist du das etwa nicht?«, entgegnete Aschmodai.
»Galahad besaß übermenschliche Tugend, Ganymed übermenschliche Schönheit. Beides trifft wohl auf niemanden von uns zu. Für mich seht ihr alle ziemlich menschlich aus.«
»Wie wahr«, sagte Pouncy. »Wie wahr. Das ist ein Problem. Weißt du, im Moment arbeiten wir noch am Machbarkeitsnachweis. Die ersten Versuche laufen. Noch sind wir weit davon entfernt, definitive Schlüsse ziehen zu können. Wir wollen einfach nur nichts unversucht lassen.«
Wie ein Professor, der einen vielversprechenden Examenskandidaten herumführt, begleitete Pouncy Julia auf einen Rundgang durch den Ostflügel, den sie bisher nicht hatte betreten dürfen. Sie durchwanderte Zimmer nach Zimmer, vollgestopft mit den Utensilien Hunderter Kirchen und Tempel. Kutten, Priestergewänder, Altäre, Kandelaber, Weihrauchgefäße und Bischofsmützen sowie die Düfte Tausender Räuchersubstanzen.
Julia hob ein Bündel heiliger Stäbe auf, die mit Kordel zusammengebunden waren – sie erkannte einen Bischofsstab und den Shillelagh eines Druiden. Die Gegenstände unterschieden sich sehr von jenen, an die sie
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