Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
von ihr hörte, abgeschickt aus dem sicheren Hafen eines kleinen, äußerst liberalen Kunstcolleges in West-Massachusetts. Julia dachte an die Gnade und Versöhnlichkeit, mit denen sie wieder zu Hause aufgenommen worden war, als sie aus Chesterton zurückgekrochen kam. Nie zuvor und nie mehr danach hatte sie Ähnliches erlebt. Näher war sie dem Göttlichen nie gekommen.
Je mehr Julia las, nachrecherchierte, ableitete und kollationierte, desto mehr war sie davon überzeugt, dass die Göttin existierte. Nichts, was sie so heiß ersehnte, konnte nicht existieren – es war, als befände sich die Göttin einfach nur jenseits all dieser nutzlosen Worte und sei ebenso auf der Suche nach Julia wie Julia nach ihr. Sie war keine große, weltbeherrschende Göttin wie Hera oder Fricka. Sie war eher eine Mittelgewichtskämpferin in der Mannschaft eines großen Pantheons. Sie war auch keine Getreidegöttin wie Ceres – die Provence war steinig und mediterran, kein Land für Weizenanbau. Julias Göttin kümmerte sich um Trauben und Oliven, die dunklen, intensiven Früchte zäher, knorriger Bäume und Weinstöcke. Und sie hatte Töchter; die Dryaden, kämpferische Wächterinnen der Wälder.
Die Göttin war herzlich, sogar humorvoll, und liebevoll, doch sie besaß auch noch eine andere Seite, furchtbar in ihrer Kälte: eine trauernde Seite, die sich im Winter zeigte, wenn sie hinabstieg in die Unterwelt, fort vom Licht. Von dieser Geschichte existierten verschiedene Versionen. In manchen hieß es, sie sei böse auf die Menschen gewesen und habe sich vor Wut das halbe Jahr unter der Erde verborgen. In anderen hatte sie eine ihrer Dryaden-Töchter verloren und sich vor Trauer in den Hades zurückgezogen. In anderen war die Göttin von einem lokiähnlichen Verführergott hintergangen worden und gezwungen, ihre Wärme und Fruchtbarkeit gegen ihren Willen in der Unterwelt zu verbergen. In jeder Version wurde jedoch ihre Zwiespältigkeit offenbar. Sie war sowohl eine Göttin der Dunkelheit als auch des Lichts. Eine Schwarze Madonna: Sie verkörperte die Schwärze des Todes, doch auch die Schwärze guter Erde, dunkel vom Zerfall, der neues Leben hervorbringt.
Julia war nicht die Einzige, die den Ruf der Göttin hörte. Auch die anderen sprachen von ihr. Vor allem die ehemaligen Mitglieder von Free Trader Beowulf, die als Kinder meist nicht gerade die liebevollste mütterliche Zuwendung genossen hatten, fühlten sich zu ihr hingezogen. In der Krypta unter der Kathedrale von Chartres befand sich ein alter Druidenbrunnen und in seiner Nähe eine berühmte Statue der Schwarzen Madonna, die als
Notre Dame Sous Terre
bekannt war. Und so nannten sie schließlich die Göttin, deren wahren Namen sie nicht wussten, Madonna unter der Erde.
Aschmodai begann, Julia hin und wieder auf ihre nächtlichen Streifzüge mitzunehmen. Dabei waren sie entweder in Julias ehemaligem Leih-Peugeot oder, falls sie planten, etwas auszureißen oder etwas oder jemanden zu transportieren, in einem klapprigen Renault-Trafic-Kleinbus unterwegs. Eines Nachts folgten sie einem Hinweis bis tief in die Camargue, ins sumpfige Rhone-Delta vor der Mündung des Flusses ins Meer: Hunderte von Quadratkilometern weit nichts als Salzsümpfe und Lagunen.
Die Fahrt dauerte zwei Stunden. Angeblich sollte in der Camargue ein Drache namens Tarasque hausen. Als Julia Aschmodai nach Einzelheiten fragte, antwortete sie nur: »Selbst wenn ich es dir erzählen würde, du würdest mir ja sowieso nicht glauben.«
Sie hatte recht. Nachdem sie sich kilometerweit durch fauligen, stiefelsaugenden Schlamm gekämpft hatten, spürten sie endlich das Wesen auf und hetzten es aus seinem Versteck in einer Höhle voller verkrüppelter Sumpfkiefern. Als es ihnen im Mondlicht gegenüberstand, gab es einen kläglichen Schnieflaut von sich, als litte es an einer hartnäckigen Erkältung.
»Verdammte Scheiße!«, entfuhr es Julia.
»Wahnsinn!«, sagte Falstaff.
»Das übertrifft meine Erwartungen«, seufzte Aschmodai.
Die Tarasque war ein Geschöpf von der Größe eines Nilpferds, aber mit sechs Beinen. Sie besaß einen Skorpionsschwanz, eine Art Löwenkopf mit menschlichen Zügen und fransiger Mähne und trug auf dem Rücken einen stachelbewehrten Schildkrötenpanzer. Durch diesen Panzer ähnelte sie Bowser aus
Super Mario Bros.
Die Tarasque duckte sich winselnd auf den Boden, das Kinn auf einen nassen Baumstumpf gelegt, und starrte sie mit ihrem unglaublich hässlichen Gesicht an. Ihre Haltung
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