Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
Händen: einen knorrigen Olivenzweig in der rechten, ein Vogelnest mit drei Eiern in der linken. Ihr Gesicht war zur Hälfte überschattet, weil sie das halbe Jahr unter der Erde verbrachte. Ihre Augen blickten liebevoll und vergebend.
»Du bist meine Tochter«, sagte sie. »Meine wahre Tochter. Ich werde dich holen kommen.«
Julia erwachte, als Pouncy an ihre Tür hämmerte.
»Komm schnell!«, flüsterte er, als sie öffnete. »Das musst du dir ansehen!«
Noch verschlafen und im Nachthemd, folgte Julia ihm durch das dunkle Haus. Sie hatte das Gefühl, noch immer zu träumen. Die Bodendielen knarrten laut, wie immer, wenn man versucht, nachts leise durch ein Haus zu schleichen. Sie gingen eine Steintreppe in den Keller hinunter, in einen Raum, der für High-Impact-Experimente bestimmt war. Pouncy rannte Julia fast voraus.
Das Licht war ausgeschaltet. Ein einzelner, kompakter Strahl Mondlicht fiel durch ein hohes Fenster herein, welches draußen ebenerdig war. Julia rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Schnell!«, wiederholte Pouncy. »Bevor der Mond untergeht!«
In dem Raum stand ein Tisch mit einer weißen Tischdecke und einem kleinen runden Spiegel. Pouncy zeichnete mit einem Finger eine Sigille darauf, dreimal hintereinander.
»Halte deine Hände auf, so.« Er zeigte Julia seine hohlen Hände.
Als Julia seinem Beispiel folgte, hielt er den Spiegel so, dass er das Mondlicht reflektierte. Julia schnappte nach Luft. Sofort fühlte sie, wie sich ihre Hände mit etwas Kaltem, Harten füllten. Münzen. Sie rauschten wie Regen.
»Silbermünzen«, erklärte Pouncy. »Ich glaube, sie sind echt.«
Eine der Münzen fiel klimpernd zu Boden und rollte davon. Das war mächtige Magie. So etwas hatte Julia noch nie erlebt.
»Lass mich mal versuchen«, flüsterte sie.
Sie wiederholte das Zeichen, das Pouncy auf den Spiegel gemalt hatte. Diesmal wurde das Mondlicht anstatt zu Silber zu einer weißen Flüssigkeit. Sie bildete eine Pfütze auf dem Tisch und wurde von der Tischdecke aufgesaugt. Julia berührte sie mit einem Finger und kostete sie. Milch.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Pouncy, »aber ich glaube, ich habe gebetet.«
»O Gott!« Julia unterdrückte ein hysterisches Kichern. »Zu wem denn?«
»Ich habe etwas rezitiert, was ich einem der alten provenzalischen Bücher gefunden habe. Einen Text aus dem Languedoc. Ich dachte gleich an eine Beschwörungsformel, obwohl keine dazugehörigen Gesten beschrieben waren. Also habe ich mich einfach hingekniet, die Hände gefaltet und den Text aufgesagt.« Pouncy errötete. »Dabei habe ich, na ja – an unsere Madonna unter der Erde gedacht.«
»Lass uns mal einen Blick unter den Deckel werfen.«
Es gab Formeln, die Magie sichtbar machten: Sie machte die Bahnen sichtbar, auf denen die Energie in ein verzaubertes Objekt und darum herumfloss. Doch was Julia sah, als sie die Formel auf den Spiegel anwandte, spottete jeder Beschreibung. Es war das dichteste magische Netz, das sie je gesehen hatte, ein filigranes, dekoratives Muster feiner Linien wie ein Wandbehang, so eng verwoben, dass man den Spiegel darunter kaum noch erkennen konnte. Normalerweise hätte eine ganze Gruppe von Zauberern ein Jahr gebraucht, um all diese Kanäle zu in Einklang zu bringen. Stattdessen hatte Pouncy es ganz allein geschafft, in einer Nacht, mit einem einfachen Psalm. Von einem solchen Wirken hatte Julia noch nie gehört.
»Hast du das gemacht? Gerade eben?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Ich glaube nicht. Ich habe die Worte gesprochen, aber ich glaube, jemand anderer hat die Arbeit verrichtet.«
Julias Hände und ihr Körper fühlten sich seltsam leicht an. Die Luft war von einem süßen Duft erfüllt. In einer Eingebung tupfte sie ein wenig von der Milch auf jedes ihrer Augenlider. Sofort schärfte und klärte sich ihr Blick, wie beim Optiker, wenn er die Probegläser tauscht.
»Wir sind auf dem richtigen Weg, Julia«, sagte Pouncy. »Wir nähern uns der göttlichen Praxis. Das spüre ich.«
»Mit Gefühlen kann ich nicht viel anfangen«, entgegnete Julia. »Fundiertes Wissen ist mir lieber.«
Doch sie musste zugeben, dass auch sie etwas spürte. Als einzige Beschreibung dieser Art von Magie fiel ihr das Wort
ernst
ein: Es war eine verdammt nüchterne, strenge Form der Zauberkunst. Ernst wie ein Herzinfarkt. Wo lag die Grenze zwischen einem Zauber und einem Wunder? Mondlicht in Silbermünzen zu verwandeln war zwar
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