Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
getriebener Evolution. Der übliche Haufen von Obstschalen und Faultierkacke lag verstreut unter ihm.
»Hi«, grüßte Quentin.
»Hallo.«
Das Faultier drehte seinen kleinen, seltsam abgeflachten Kopf, so dass es Quentin richtig herum ansah. Die Position sah unbequem aus, aber der Hals des Faultiers schien ihr ziemlich gut angepasst zu sein. Über seinen Augen hatte es schwarze Fellstreifen, die ihm ein schläfriges Waschbärenaussehen verliehen.
Es blinzelte im Licht von Quentins Kerze.
»Es tut mir leid, dass ich dich hier unten nicht oft besucht habe«, sagte Quentin.
»Schon gut. Es macht mir nichts aus. Ich bin kein besonders geselliges Tier.«
»Ich kenne nicht einmal deinen Namen.«
»Ich heiße Abigail.«
Sie war also ein Faultierweibchen. Das hatte Quentin nicht gewusst. Ein harter Holzstuhl war heruntergebracht worden, wahrscheinlich für den Fall, dass jemand die Konversation mit dem Faultier so sehr genoss, dass er oder sie sich einfach setzen musste, um sich noch mehr daran zu erfreuen.
»Du warst ja auch sehr beschäftigt«, fügte sie charmant hinzu.
Ein langes Schweigen folgte. Ab und zu kaute das Faultier mit seinen stumpfen gelben Zähnen auf etwas Undefinierbarem herum. Irgendjemand musste die Aufgabe haben, regelmäßig hier herunterzukommen, um es zu füttern. Sie zu füttern.
»Darf ich dich fragen«, sagte Quentin schließlich, »warum du mit auf diese Reise gekommen bist? Das wollte ich schon immer gerne wissen.«
»Natürlich darfst du mich fragen«, antwortete Abigail, das Faultier, gelassen. »Ich bin mitgekommen, weil niemand anderer Lust dazu hatte, wir aber glaubten, wir müssten jemanden mitschicken. Der Rat der Tiere hat schließlich mich ausgewählt, weil es mir am wenigsten ausmacht. Ich schlafe viel und bewege mich kaum. Ich genieße meine Ruhe. In gewisser Weise bin ich kaum auf dieser Welt, daher spielt es keine Rolle, wo ich mich auf ihr befinde.«
»Ach, und wir dachten, die sprechenden Tiere wollten einen Repräsentanten auf dem Schiff haben. Wir dachten, wir würden euch beleidigen, wenn wir niemanden mitnähmen.«
»Und wir dachten, ihr wärt beleidigt, wenn wir niemanden schickten. Schon amüsant, wie voll von Missverständnissen die Welt ist, oder?«
Da hatte sie recht.
Dem Faultier waren die langen Pausen nicht unangenehm. Vielleicht empfanden Tiere nicht auf die gleiche Weise Unbehagen wie die Menschen.
»Wenn ein Faultier stirbt, bleibt es in seinem Baum hängen«, sagte Abigail zusammenhanglos. »Oft so lange, bis es verwest.«
Quentin nickte weise.
»Das habe ich nicht gewusst.«
Es war nicht leicht, eine Erwiderung zu finden.
»Das soll dir nur ein Beispiel für die Lebensweise der Faultiere geben, die sich von der der Menschen und auch von der der anderen Tiere unterscheidet. Wir verbringen unser Leben sozusagen zwischen den Welten. Wir hängen uns zwischen Erde und Himmel und berühren weder das eine noch das andere. Unsere Gedanken schweben zwischen Schlafen und Wachen. In gewisser Weise leben wir auf der Grenze zwischen Leben und Tod.«
»Das ist wirklich sehr verschieden von der Lebensweise der Menschen.«
»Dir muss das seltsam erscheinen, aber so fühlen wir uns am wohlsten.«
Das Faultier erweckte den Eindruck, dass man offen mit ihm reden konnte.
»Warum erzählst du mir das?«, fragte Quentin. »Ich bin mir sicher, dass es einen Grund dafür gibt, aber ich erkenne ihn nicht. Geht es um den Schlüssel? Hast du irgendeine Vorstellung, wo wir ihn finden könnten?«
Quentin hatte keine Ahnung, wie viel das Faultier über die Vorgänge an Deck wusste. Vielleicht wusste es nicht einmal, dass sie sich auf einer Suche befanden.
»Nein, es geht nicht um die Schlüssel«, antwortete Abigail in ihrer fließenden, gemächlichen Redeweise. »Sondern um Benedikt Fenwick.«
»Benedikt? Was ist mit ihm?«
»Würdest du gerne mit ihm reden?«
»Ja, natürlich. Aber er ist tot. Er ist vor zwei Wochen gestorben.«
Noch immer konnte Quentin nicht daran denken, ja, es nicht einmal aussprechen. Der Schmerz war noch genauso frisch wie an jenem ersten Abend.
»Es gibt Wege, die den meisten Wesen verschlossen sind, einem Faultier aber nicht.«
Quentin nahm an, dass es von vornherein selbstverständlich war, in einer Unterhaltung mit einem Faultier sehr viel Geduld aufbringen zu müssen.
»Das verstehe ich nicht. Willst du eine Séance abhalten, so dass wir mit Benedikts Geist reden können?«
»Benedikt befindet sich in der Unterwelt. Er ist kein
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