Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
Die Bedrohung hing noch immer wie ein Damoklesschwert über ihm: Jeden Morgen wachte er auf und rechnete damit, dass die Magie abgeschaltet worden war wie der Strom wegen einer unbezahlten Rechnung und dass um ihn herum Fillory in sich zusammenstürzte wie ein modernes Pompeji. Dabei kamen sie wirklich schnell voran, jedenfalls bis heute Morgen. Admiral Lacker hatte, verstaut in einem verborgenen Holzspind, ein Segel gefunden, das nicht nur den Wind, sondern auch das Licht einfing. Quentin erkannte es wieder: Die Chatwins hatten so eines an Bord der
Swift
gehabt. Nachts hing es die meiste Zeit schlaff herunter, nur hin und wieder von Mondstrahlen oder Sternenlicht gebauscht, doch bei Tag blähte es sich wie ein Spinnacker im Sturm und trieb das Schiff fast ganz allein voran. Man musste es nur ab und zu trimmen, je nach Sonnenstand.
Alles gut und schön. Aber Fillory spielte nicht mit. Es gab den Schlüssel nicht preis. Die Wunder schienen sich zu verstecken. In der letzten Woche hatten sie unbekannte Inseln erreicht, waren an jungfräulichen Stränden an Land gegangen, in erstickende Mangrovenwälder eingedrungen und sogar auf einen verirrten Eisberg geklettert, doch ein Schlüssel war nicht aufgetaucht. Sie kamen nicht weiter. Es funktionierte nicht. Irgendetwas fehlte. Es war fast, als sei etwas aus der Luft verschwunden: Eine Spannung war erschlafft, eine elektrische Ladung hatte sich zerstreut. Quentin zermarterte sich das Gehirn mit der Frage, was es sein konnte.
Außerdem hörte es nicht auf zu regnen.
Nach der Versammlung zwang sich Quentin, eine Pause einzulegen. Er streckte sich in seiner feuchten Koje aus und wartete darauf, dass seine Körperwärme sich in der klammen, lauwarmen Bettwäsche ausbreitete. Es war zu spät für einen Mittagsschlaf und zu früh, um sich richtig schlafen zu legen. Draußen vor dem Bullauge versank die Sonne hinter dem Rand der Welt, oder war gerade schon verschwunden, aber das konnte man nicht so genau feststellen. Himmel und Meer waren nicht voneinander zu unterscheiden. Die ganze Welt war eintönig grau wie Hafergrütze.
Quentin starrte hinaus, kaute an der Nagelhaut seines Daumens – eine schlechte Angewohnheit seit seiner Kindheit – und ließ seine Gedanken in der Leere treiben.
Da hörte er eine Stimme.
»Quentin.«
Quentin öffnete die Augen. Er musste eingeschlafen sein. Draußen war es inzwischen dunkel.
»Quentin«, wiederholte die Stimme. Er hatte also nicht geträumt. Die Stimme klang gedämpft, und er konnte nicht feststellen, aus welcher Richtung sie kam. Er setzte sich auf. Die Stimme war sanft, leise, androgyn und irgendwie vertraut. Sie klang nicht ganz menschlich. Quentin sah sich in der Kajüte um, doch er war allein.
»Wer bist du?«, fragte er.
»Ich bin hier unten, Quentin. Du hörst mich durch ein Gitter im Fußboden. Ich bin unten im Laderaum.«
Jetzt konnte Quentin die Stimme einordnen. Er hatte ganz vergessen, dass es an Bord war!
»Faultier? Bist du das?« Hatte es eigentlich einen richtigen Namen?
»Ich dachte, du würdest mich vielleicht gern besuchen kommen.«
Quentin konnte sich nicht vorstellen, wie das Faultier auf diese Idee gekommen war. Der Frachtraum der
Muntjak
war dunkel und roch feucht, faulig und nach Bilgenwasser, und nebenbei bemerkt auch nach Faultier. Ihm wäre es lieber gewesen, sich von hier oben aus mit ihm zu unterhalten. Oder auch überhaupt nicht.
Du meine Güte! Plötzlich wurde ihm bewusst, dass das Faultier alles mit angehört haben musste, was seit ihrem Aufbruch von Schloss Whitespire in dieser Kajüte geschehen war.
Tatsächlich hatte er aber dem Faultier gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er hatte es kaum beachtet. Ehrlich gesagt war es auch ein bisschen langweilig. Aber er schuldete ihm einen gewissen Respekt als Schiffsrepräsentanten der sprechenden Tiere. Außerdem war es warm unten im Frachtraum, und er hatte gerade nichts anderes zu tun. Quentin seufzte, schälte sich aus den Decken, nahm eine Kerze und stieg die Leiter hinunter.
Der Frachtraum war leerer als in seiner Erinnerung. Nach einem Jahr auf See war das wohl ganz normal. Schwarzes Wasser schwappte in einer Rinne im Boden. Das Faultier war ein Wesen von merkwürdigem Aussehen, etwa einen Meter zwanzig lang und mit einem dichten, grüngrauen Pelz. Es hing an seinen langen Armen und Beinen herunter, so dass sein Kopf etwa auf Quentins Augenhöhe war. Mit seinen dicken Klauen umklammerte es einen Balken. Seine Erscheinung roch nach zu weit
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