Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
treten – es war ein Gedränge wie bei einem Riesenpicknick. Quentin befürchtete, Aufmerksamkeit zu erregen, weil er lebendig war, aber die Schatten sahen ihn meist nur kurz an und blickten dann wieder weg. Diese Unterwelt war nicht wie die von Homer oder Dante, wo alle unbedingt mit einem reden wollten.
Dieser Ort war eher deprimierend als gespenstisch. Man fühlte sich wie bei dem Besuch eines Sommerlagers, Seniorentreffs oder einer fremden Firma – alles gut und schön, aber das Bewusstsein, dass man nicht dort bleiben musste, sondern am Ende des Tages nach Hause gehen konnte und nie wieder zurückkehren musste, ließ einen vor Erleichterung schwindeln. Nicht alle Sportgeräte waren in gutem Zustand. Einige waren regelrecht schäbig. Die Spielbretter waren in der Mitte, wo man sie zusammenklappte, schon ganz rissig und abgenutzt, und bei manchen der Badmintonschläger hatten sich Saiten in der Bespannung gelöst. Der erste tiefe Schock durchfuhr Quentin, als er Fen erblickte.
Er hätte damit rechnen müssen. Sie war seine Führerin auf dem Weg in die Höhle unter Embers Grabmal gewesen, die treue, die sie nicht verraten hatte. Im Leben hatte er sie kaum gekannt, aber mit ihren Fischlippen und dem Lesbenhaarschnitt war sie unverkennbar. Das letzte Mal hatte er sie gesehen, als sie gerade von einem glühenden Feuerriesen zerquetscht und verbrannt worden war. Hier sah sie ganz gesund aus, wenn auch ein wenig blass. Sie spielte lässig Pingpong, und falls sie ihn erkannte, ließ sie es sich nicht anmerken.
Quentin erlaubte sich jetzt erst, über die Frage nachzudenken, die er dem Faultier nicht zu stellen gewagt hatte: ob Alice hier war. Einesteils sehnte er sich danach, sie wiederzusehen, und hätte alles dafür gegeben, wenn eines der Gesichter in der Menge ihres gewesen wäre. Andererseits hoffte er, dass sie nicht hier war. Sie war jetzt ein
Niffin
und galt als solcher vielleicht noch als lebendig.
Hier und dort standen große Metallpfeiler, die die Decke stützten, und Benedikt saß mit dem Rücken an einen von ihnen gelehnt auf dem Boden und starrte in die fahle, leere Ferne. Neben ihm lag eine halbfertige Patience, an der er offenbar das Interesse verloren hatte, denn er hätte weitermachen und eine Karofünf auf eine Piksechs legen können.
Er glich wieder eher dem Benedikt, den Quentin im Kartenraum kennengelernt hatte, als dem sonnenbräunten Draufgänger, der er an Bord der
Muntjak
geworden war. Er war blass, hatte dünne Arme, und ihm fielen wieder seine schwarzen Stirnfransen in die Augen. Sein Haar war nachgewachsen. Er sah aus wie ein melancholischer Caravaggio-Jüngling. Der Tod ließ ihn jünger aussehen.
Quentin blieb stehen.
»Hallo, Benedikt.«
»Hallo«, sagte Julia.
Benedikts Augen huschten hinüber zu Quentin und richteten sich dann wieder in die Ferne.
»Ich weiß, dass du mich nicht mitnehmen kannst«, sagte er leise.
Der Tod nahm kein Blatt vor den Mund.
»Stimmt«, sagte Quentin. »Das kann ich nicht. Das hat mir das Faultier gesagt.«
»Warum bist du dann gekommen?«
Jetzt blickte er Quentin vorwurfsvoll an. Quentin hatte befürchtet, er hätte eine klaffende Wunde im Hals, aber die Haut war glatt und unversehrt. Quentin erinnerte sich daran, dass Benedikt kein Zombie, sondern ein Geist war. Nein, ein Schatten.
»Ich wollte dich wiedersehen.«
Quentin setzte sich neben den Jungen und lehnte sich ebenfalls mit dem Rücken an den Pfeiler. Julia setzte sich auf Benedikts andere Seite. Zusammen blickten die drei auf das Gedränge der Toten.
Eine Weile verging, vielleicht fünf Minuten, vielleicht eine Stunde. Es war schwer, in der Unterwelt ein Gefühl für die Zeit zu bewahren. Quentin ermahnte sich, wachsam zu bleiben.
»Wie geht es dir, Benedikt?«, fragte Julia.
Benedikt antwortete nicht.
»Hast du gesehen, was mir passiert ist?«, fragte er stattdessen. »Ich war völlig überrascht. Schramme hatte mir befohlen, auf dem Schiff zu bleiben, aber ich dachte …« Er beendete den Satz nicht, sondern runzelte nur hilflos die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich wollte einmal etwas von dem, was wir trainiert hatten, in der Praxis ausprobieren. In echt, in einem echten Kampf. Doch in dem Moment, als ich von Bord ging,
tschuuuuh!
Mitten in den Hals. In die Kuhle unter dem Kehlkopf.«
Er drückte mit dem Zeigefinger auf die weiche Stelle unterhalb des Adamsapfels, wo der Pfeil eingedrungen war.
»Es hat nicht mal besonders weh getan. Das war das Komische. Ich dachte,
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