Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)
rasch zu Julia um, hielt inne und starrte sie an. Auch die anderen starrten sie alle an. Julia war gewachsen, und ihre Augen waren strahlend grün geworden. Irgendetwas geschah mit ihr. Mit einem angedeuteten, wissenden Stirnrunzeln sah sie selbst dabei zu, wie ihre Arme sich streckten und verstärkten und ihre Haut einen glänzenden Perlmuttschimmer annahm. Sie sah aus wie bei dem Kampf in der Burg, nur noch ausdrucksvoller. Sie wandelte ihre Gestalt.
Dann lächelte sie, richtig strahlend. Sie blickte an Quentin vorbei auf die versammelten Schatten, und diese wichen zurück wie vor einem starken Wind. Benedikt öffnete den Mund.
»Kannst du mich jetzt sehen?«, fragte Julia.
Er nickte mit weitaufgerissenen Augen.
Sie war jetzt kein Mensch mehr, sondern etwas anderes. Ein Geist? Sie war schon vorher schön gewesen, aber jetzt erstrahlte sie in voller Pracht. Ihre Anwesenheit an diesem Ort musste sie dazu gebracht oder ihr erlaubt haben, die Entwicklung zu vollenden, die schon die ganze Zeit in ihr vorgegangen war. Sie war jetzt so groß wie Quentin, schien aber nicht mehr weiter zu wachsen. Mit neugierigem Blick hob sie einen Hockeyschläger vom Boden auf. Bei ihrer Berührung wuchs er. Er erwachte zum Leben und wurde zu einem langen Stab mit knotigem Ende. Sie schwang ihn, und die Schatten wichen noch weiter zurück, sogar Martin Chatwin.
»Komm her!«, befahl sie ihm. Julias Stimme klang noch wie zuvor, nur verstärkt und mit Hall. »Komm, kämpfe gegen mich!«
Martin kam nicht näher. Doch das brauchte er auch nicht, denn Julia rauschte auf ihn zu wie der Blitz, schneller als menschenmöglich, wie ein zuschlagender Giftrochen, und packte ihn vorne am Hemd. Sie hob ihn hoch und warf ihn in hohem Bogen in die Menge. Er breitete Arme und Beine aus wie ein Seestern. Ihre Kräfte waren überirdisch. Quentin war sich nicht sicher, ob sie Martin verletzten konnte – schließlich konnte er wohl nicht zum dritten Mal sterben –, aber sie musste ihm einen Heidenschrecken eingejagt haben.
Die Menge reagierte wie Zuschauer in einem Fußballstadion: Die Frontreihen wichen zurück, doch hinter ihnen strömten die Schatten aus allen Richtungen herbei. Ihre Stimmen und Schritte hallten laut in dem immensen Raum wider. Das Gerücht hatte sich verbreitet, dass hier etwas los war. Die Menge hörte nicht auf zu wachsen. Julia konnte sich womöglich bis zur Tür durchkämpfen, aber Quentin glaubte nicht, dass sie sie beide retten konnte.
Auch Julia erkannte die Situation.
»Schon gut«, sagte sie. »Wir bringen das wieder in Ordnung.«
Genau das hatte Quentin zu ihr auf dem Rasen seines Elternhauses in Chesterton gesagt. Ob sie sich auch daran erinnerte? Aus ihrem Mund klang es jedenfalls glaubhafter.
Julia stieß mit dem Ende ihres Stabs auf den Boden, und Quentin musste den Blick abwenden. Das Licht war so hell, dass es drohte, ihn zu blenden. Er sah zwar nichts, hörte aber die Schatten der Unterwelt von Fillory wie aus einem Mund nach Luft schnappen. Das Licht, das plötzlich erstrahlte, war unbeschreiblich – nicht wie diese künstliche Funzelbeleuchtung hier unten, sondern ein heller, weißgoldener Sonnenschein in sämtlichen Wellenlängen. Es war, als wären plötzlich die Wolken aufgerissen.
Eine Stimme erklang.
»Genug.« Es war eine weibliche Stimme, wohltönend und zu Herzen gehend.
Als Quentin die Augen wieder öffnete, sah er eine Frau vor Julia stehen, dort, wo diese mit dem Stab auf den Boden geklopft hatte. Sie verkörperte eine Vision der Macht. Aus ihrem liebreizenden Antlitz sprachen Freundlichkeit und Humor, zugleich aber auch Stolz und Kampfgeist. Es war das Gesicht einer Göttin. Die Besonderheit daran war, dass eine Seite im Schatten lag und dadurch Ernsthaftigkeit und Verständnis für Trauer ausdrückte. Alles wird gut, schien die Göttin zu vermitteln, und was nicht zu ändern ist, werden wir beweinen.
In einer Hand hielt Sie einen knorrigen Stab wie den von Julia, in der anderen seltsamerweise ein Vogelnest mit drei bläulichen Eiern darin.
»Genug!«, wiederholte Sie.
Die Schatten gehorchten Ihr und hielten still. Julia kniete vor der Göttin nieder und vergrub ihr Gesicht in Ihren Händen.
»Meine Tochter«, sprach die Göttin. »Dir kann jetzt nichts mehr geschehen. Es ist vorbei.«
Julia nickte und blickte zu Ihr auf. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Ihr seid es«, hauchte sie. »Unsere Madonna unter der Erde.«
»Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen.«
Die
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