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Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)

Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition)

Titel: Fillory - Der König der Zauberer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lev Grossman
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obwohl sie jetzt mehr Platz hatte, um Pentagramme zu legen und ihre Schwester nicht mehr stören konnte, indem sie ihre Talismane klaute, an ihre Tür hämmerte und wegrannte, wenn sie sang. (Der Einschüchterungseffekt hatte leider etwas nachgelassen.) Es war total verfickt, als sie einem affenartigen Mittzwanziger, der sein Glück kaum fassen konnte, bei einer Party im Bad einen runtergeholt hatte, weil er versprochen hatte, ihr nach Schließungszeit Zugang zum Prospect Park Zoo zu verschaffen, wo doch der Zoo eine unermesslich reiche Zutatenquelle für gewisse afrikanischer Präparate darstellte. Außerdem brauchte Julia etwas Sperma für verschiedene Versuche, die jedoch – zum Glück für den Tierpfleger – fehlschlugen.
    Einmal, nur ein einziges Mal, erhielt Julia einen Einblick in wahre Magie. Sie erhielt ihn nicht durch einen schimmeligen alten Kodex, sondern durchs Internet, obwohl die Information nach Onlinestandards geradezu uralt war – das Internetäquivalent zu einem schimmeligen alten Kodex in feinstes Embryokalbsleder gebunden.
    Sie hatte in den Archiven einer alten Mailbox geschnüffelt, die aus Kansas City Mitte der 1980 er Jahre stammte. Sie versuchte es mit den üblichen Schlüsselwörtern, wie man das so macht, und erhielt den üblichen Müll, wie man ihn so kriegt. Es war, als suche sie in der kosmischen Hintergrundstrahlung nach Zeichen außerirdischen Lebens. Doch ein Treffer glich verdächtig einem Signal und keinem Rauschen.
    Es war eine Bilddatei. In der schlechten alten Zeit der 2400 -Baud-Modems mussten Bilddateien in einem Hexadezimalcode und in Tranchen von zehn bis zwanzig Einzeldateien übermittelt werden, da die Datenmenge eines Bildes die erlaubte Datenmenge einer Mail um das Vielfache überstieg. Man speicherte die Teile alle in einem gemeinsamen Ordner ab, fügte sie mit Hilfe eines kleinen Programms zu einer Datei zusammen und dekodierte sie anschließend. In der Hälfte der Fälle gingen irgendwo unterwegs ein paar Daten verloren, der ganze Frame brach zusammen, und man stand mit leeren Händen da. Rauschen, Knistern, Schneegestöber. In der anderen Hälfte der Fälle erschien das Foto einer in die Jahre gekommenen Stripperin mit Mutterspeck und Kaiserschnittnarbe, die nur das Röckchen einer Cheerleaderuniform trug.
    Doch wenn sie das Schloss zu der Scheißmagie knacken wollte, durfte sie sich nicht mit halben Sachen zufriedengeben.
    Nachdem sie die Bilddatei zusammengefügt und dekodiert hatte, stellte sie sich als Scan eines handschriftlichen Dokuments heraus. Ein Couplet – zwei Zeilen in einer Sprache, die sie nicht erkannte, in Lautschrift. Über jeder Silbe waren musikalische Zeichen für Rhythmus und (in einigen Fällen) Intonation notiert. Darunter befand sich die Zeichnung einer menschlichen Hand, die eine Geste ausführte. Es gab keinen Hinweis darauf, worum es sich bei dem Dokument handelte, keine Überschrift, keine Erklärung. Aber es war interessant. Es wirkte sinnvoll, handwerklich und präzise, nicht wie ein Kunstprojekt oder ein Scherz. Es steckte zu viel Arbeit und zu wenig Humor darin.
    Julia begann mit den Textzeilen. Dank zehn Jahren Oboenunterricht konnte sie vom Blatt singen. Die Worte waren einfach, die Handbewegungen dagegen mörderisch. Nachdem sie zur Hälfte durch war, glaubte sie fast wieder an einen Scherz, doch sie war zu dickköpfig, um aufzugeben. Fast hätte sie es dennoch getan, aber dann sagte sie versuchsweise die ersten paar Silben auf und stellte fest, was diese Übung von anderen unterschied. Sie brachte ihre Fingerspitzen zum Glühen. Sie summten, als hätte sie eine Batterie berührt. Die Luft bot ihr Widerstand, als sei sie leicht viskos geworden. Etwas regte sich in ihrer Brust, das sie noch nie zuvor gespürt hatte. Es hatte ihr Leben lang in ihr geschlummert, und jetzt hatte sie es durch diese Übung angestupst und aufgestört.
    Der Effekt verging, sobald sie aufhörte. Es war zwei Uhr morgens, und um acht hatte sie einen Tipp-Job bei einer Anwaltskanzlei in Manhattan. (Schreibjobs waren die einzigen, die sie noch ergattern konnte. Sie konnte tippen wie der Teufel, aber ihre äußere Erscheinung und ihre Manieren am Telefon ließen mittlerweile derart zu wünschen übrig, dass man sie bei ihrem letzten Einsatz an einer Rezeption schon beim Reinkommen gefeuert hatte.) Sie hatte seit zwei Tagen weder geduscht noch geschlafen und schlief seit zwei Monaten in derselben Bettwäsche. Ihre Augen waren verklebt. Sie stand an ihrem

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