Fillory - Die Zauberer
doch?«
Wieder schüttelte Quentin den Kopf.
»Also, du erinnerst dich doch daran, dass er in dem Buch verschwunden ist? Nun, er ist auch in Wirklichkeit verschwunden. Er ist weggelaufen oder hatte einen Unfall, man weiß es nicht. Eines Tages nach dem Frühstück war er einfach weg und seine Familie hat ihn nie wiedergesehen.«
»Der echte Martin?«
»Der echte.«
»Stimmt, das ist wirklich sehr traurig.«
Quentin versuchte, es sich vorzustellen: eine große englische Familie mit frischen Gesichtern und glatten Haaren – er malte sie sich auf einem sepiafarbenen Familienporträt aus, alle im weißen Tennisdress – und plötzlich tat sich ein Loch in ihrer Mitte auf. Die schreckliche Nachricht. Die allmähliche Akzeptanz. Der nie wiedergutzumachende Schaden.
»Das erinnert mich an meinen Bruder«, sagte Alice.
»Ich weiß.«
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Aber es stimmte, er wusste es genau.
Er rollte sich auf die Seite und stützte sich auf einem Ellenbogen ab, damit er sie richtig ansehen konnte. Aufgewirbelte Staubteilchen führten um ihn einen wilden Tanz auf. »Als ich klein war«, sagte er langsam, »und sogar später noch, habe ich Martin immer beneidet.«
Sie lächelte ihn an.
»Ich weiß.«
»Weil ich dachte, er hätte es endlich geschafft. Ich weiß, dass es eigentlich eine Tragödie ist, aber für mich war es, als hätte er gegen die Bank gewonnen, das System ausgetrickst. Er durfte für immer in Fillory bleiben.«
»Ich weiß. Ich verstehe schon.« Sie legte ihm die Hand auf die Brust, um ihn am Weiterreden zu hindern. »Genau das unterscheidet dich von uns allen anderen, Quentin. Du glaubst wirklich noch an Magie. Aber du weißt doch, dass niemand außer dir daran glaubt, oder? Ich meine, wir alle wissen, dass Magie real ist. Aber du glaubst noch daran, oder?«
Sie verwirrte ihn. »Ist das falsch?«
Sie nickte und lächelte noch fröhlicher. »Ja, Quentin. Es ist falsch.«
Er küsste sie, sanft zuerst. Dann stand er auf und schloss die Tür ab.
So begann es, obwohl es natürlich schon lange vorher angefangen hatte. Es war, als täten sie ungestraft etwas Verbotenes, als hätten sie irgendwie erwartet, dass etwas oder jemand sie daran hindern würde. Als sie herausfanden, dass nichts geschah, dass es keine Konsequenzen gab, verloren sie alle Hemmungen. Gierig, richtig grob, rissen sie sich die Kleider vom Leib, nicht nur vor Lust aufeinander, sondern auch aus der Lust heraus, alle Hemmungen über Bord zu werfen. Es war wie ein Wachtraum. Ihr Atem und das Rascheln der Kleidung hallte laut in dem kleinen, keuschen Schlafzimmer wider. Weiß Gott, was man unten hören konnte! Quentin hatte das Bedürfnis, Alice zu bedrängen, um festzustellen, ob es in ihr genauso heftig brannte wie in ihm, um zu sehen, wie weit sie gehen und wie weit sie ihn gehen lassen würde. Sie hielt ihn nicht auf. Sie drängte ihn immer weiter. Es war nicht sein erstes Mal, und technisch gesehen nicht mal sein erstes Mal mit Alice, aber diesmal war es ganz anders. Es war richtiger Menschensex, und gerade darum umso besser, weil sie keine Tiere waren – sie waren zivilisierte, verschämte, unsichere menschliche Wesen, die sich in schwitzende, lustvolle, wahrhaft nackte Tiere verwandelten. Nicht durch Magie, sondern weil sie in gewisser Weise schon die ganze Zeit so gewesen waren.
Sie versuchten, diskret damit umzugehen – sie redeten miteinander kaum darüber –, aber die anderen wussten Bescheid. Sie ließen sich Ausreden einfallen, um die beiden allein zu lassen, und Quentin und Alice nutzten jede Gelegenheit. Quentin hatte den Eindruck, dass die anderen erleichtert waren, weil die Spannung zwischen ihm und Alice endlich gebrochen war. In gewisser Weise war die Tatsache, dass Alice Quentin genauso begehrte wie er sie, eines der größten Wunder von allen, die er bisher in Brakebills erlebt hatte. Auch war es genauso schwer, daran zu glauben, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Seine Liebe zu Julia war eine Neigung gewesen, eine gefährliche Kraft, die ihn in das kalte, leere Brooklyn zurückzuziehen versucht hatte. Alice’ Liebe dagegen war so viel wirklicher und band ihn für immer an sein neues Leben, sein wahres Leben, hier in Brakebills. Sie verwurzelte ihn hier und nirgends sonst. Es war kein Traum. Es war Fleisch und Blut.
Und sie verstand das. Sie schien alles über Quentin zu wissen, alles, was er dachte und fühlte, manchmal schon, bevor es ihm bewusst wurde, und sie wollte ihn trotzdem –
Weitere Kostenlose Bücher