Fillory - Die Zauberer
menschliche Literatur könnte nichts als ein Reiseführer ins Multiversum sein! Einmal habe ich hundert Plätze hintereinander markiert, die alle in einer Richtung lagen, bin dabei aber nie bis zum Ende gelangt. Wir könnten diesen Ort für den Rest unseres Lebens erforschen und niemals ganz erfassen. Das ist es, Quentin! Das ist die neue Grenze, die Herausforderung unserer Generation und der nächsten fünfzig Generationen nach uns!
Hier fängt alles an, Quentin. Mit uns. Du musst es nur wollen.
Was sagst du dazu?«
Er streckte tatsächlich die Hand aus, als erwarte er, dass Quentin und Alice einschlagen und sie einen Football-Kampfschrei ausstoßen würden. Go team! Quentin hätte nicht übel Lust gehabt, Penny auflaufen zu lassen, gab ihm aber schließlich eine schlaffe Fünf. Sein Auge pochte immer noch.
»Wir sollten umkehren«, wiederholte Alice. Sie sah erschöpft aus. Höchstwahrscheinlich hatte sie letzte Nacht nicht viel geschlafen.
Sie zog den seltsam schweren Perlmuttknopf aus ihrer Hosentasche. Er sah lächerlich aus – in den Büchern hatte alles so vernünftig geklungen, aber das waren eben Bücher, und die Chatwins hatten die Knöpfe nur das eine Mal benutzt. In der Wirklichkeit fühlte es sich an, als spielten sie ein Kinderspiel. Der Knopf verkörperte die Vorstellung eines kleinen Kindes von einem magischen Gegenstand. Aber was konnte man von einem Rudel sprechender Kaninchen schon erwarten?
Zurück auf ihrem Ankunftsplatz reihten sie sich am Brunnenrand auf, fassten sich an den Händen und balancierten schwankend auf der Umrandung. Die Aussicht, wieder nass zu werden, war unglaublich deprimierend. In einer Ecke des Platzes entdeckte Quentin einen Trieb, der sich von unten einen Weg durch die Pflastersteine gesucht hatte. Er war knorrig und gebeugt, fast zu einer Schraube verzogen, aber er lebte. Quentin fragte sich, worauf die Stadt erbaut worden war und was kommen würde, sollte sie jemals fallen. Waren hier Wälder gewesen? Würden sie je zurückkehren?
Alice hatte sich auf Pennys andere Seite gestellt, um Quentin nicht berühren zu müssen. Zusammen machten sie einen Schritt vom Rand, mit dem rechten Fuß zuerst, absolut synchron.
Der Übergang war diesmal anders. Sie fielen durch das Wasser abwärts, als sei es Luft, dann durch Dunkelheit, dann war es, als fielen sie vom Himmel, in Richtung Manhattan an einem grauen Freitagmorgen im Winter – braune Parks, graue Gebäude, gelbe Taxen auf weiß gestreiften Zebrastreifen, schwarze Flüsse, gesprenkelt mit Schleppern und Barkassen – hinunter durch das graue Dach und hinein ins Wohnzimmer, wo Janet, Eliot und Richard noch immer in einer verzögerten Aktion gefangen waren, als hätte Alice erst gerade eben nach dem Knopf in Pennys Hose gegriffen, als hätte sich in den letzten drei Stunden rein gar nichts ereignet.
»Alice!«, rief Janet heiter. »Nimm die Hand aus Pennys Hose!«
AUF DEM LAND
Danach wollten natürlich alle gehen. Über Quentins geschwollenes Auge verloren sie kaum ein Wort. (»Die Einheimischen waren etwas nervös«, improvisierte er trocken.) Nur wenige Augenblicke nach Quentins und Alice’ Rückkehr kam Josh herein, der die Nacht mit Anaïs verbracht hatte. Sie mussten ihm die ganze Geschichte noch einmal von vorn erzählen. Dann sprangen sie in Dreiergruppen. Josh ging mit Penny und Richard. Dann nahm Penny Janet und Eliot mit hinüber. Josh rief Anaïs an und sagte ihr, sie solle rüberkommen. Sie ging mit ihm und Penny.
Von ihnen allen reagierte nur Janet ziemlich heftig. In dem Moment, als sie an der Oberfläche auftauchten, würgte sie und erbrach ihr Frühstück mitten in das kalte, klare magische Wasser. Dann geriet sie in Panik. Eliot kehrte zurück und spielte den anderen bis aufs i-Tüpfelchen genau vor, wie hysterisch sie sich aufgeführt hatte. Sie hatte Penny hysterisch am Arm gepackt und angefleht: »Knopf! Gib mir sofort den Knopf!«
Quentin ließ ihr schlechter Zustand kalt. In seinen Augen war sie ein Vampir. Sie ernährte sich von der Liebe anderer und ließ deren intakte Beziehungen zerstört und verkrüppelt zurück.
Die Stimmung im Raum war ernst und nüchtern. Alle warfen einander lange, forsche, bedeutungsschwere Blicke zu. Niemand schien in Worte fassen zu können, wie wichtig diese Erfahrung war, aber alle waren sich einig, dass etwas Großes geschah. Etwas von zentraler Bedeutung. Und dass es ihr Geheimnis bleiben musste, im Moment jedenfalls. Sie mussten alles für sich behalten.
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