Fillory - Die Zauberer
wegwerfen? Alles: Jeden, den er kannte, James und Julia, das College, das er besucht hätte, die Karriere, die vor ihm gelegen hätte, die Zukunft, auf die er sich vorbereitet hatte. Für das hier? Diese bizarre Scharade, diesen Fiebertraum, dieses Rollenspiel mit Kostümen?
Er starrte zum Fenster hinaus. Fogg beobachtete ihn ungerührt, und wenn ihm an seiner Entscheidung irgendetwas lag, ließ er es sich nicht anmerken. Der kleine zappelnde Metallvogel, der aus seiner Schublade entkommen war, lief emsig mit dem Kopf gegen eine Wandvertäfelung.
Dann war es plötzlich, als fiele Quentin ein dicker Stein vom Herzen. Er hatte das Gefühl, als habe er ein ganzes Leben lang auf seine Brust gedrückt, ein unsichtbarer Albatross, ein Mühlstein aus Granit, der ihn schwer belastete, und plötzlich fiel er herunter und verschwand sang- und klanglos. Seine Brust weitete sich, als könne er jeden Moment hinauf zur Decke schweben wie ein Ballon. Sie wollten einen Zauberer aus ihm machen und er musste dafür nichts tun außer zu unterschreiben? Mein Gott, was war, verdammt nochmal, mit ihm los? Natürlich würde er unterschreiben. Das hier war genau das, was er sich immer schon gewünscht hatte, der Bruch, auf den zu warten er vor Jahren aufgegeben hatte. Jetzt war er zum Greifen nah! Endlich war er auf der anderen Seite, durch das Kaninchenloch, hinter dem Spiegel. Er würde die Papiere unterschreiben und er würde ein verdammter Zauberer werden! Was sollte er sonst mit seinem Leben anfangen?
»Okay«, sagte Quentin ruhig. »In Ordnung. Unter einer Bedingung: Ich will sofort anfangen. Ich will in diesem Zimmer bleiben. Und ich will nicht mehr nach Hause.«
Er musste nicht nach Hause. Stattdessen trafen seine Sachen von zu Hause in Reisetaschen und Rollenkoffern ein, gepackt von seinen Eltern. Tatsächlich war es, wie Fogg versicherte, für sie völlig in Ordnung, dass sich ihr einziges Kind plötzlich mitten im Schuljahr an einer geheimnisvollen Ausbildungsinstitution immatrikulierte, die sie nie besucht und von der sie bisher nicht einmal etwas gehört hatten. Nach und nach packte Quentin seine Kleider und Bücher aus und räumte sie in die Schränke und Kammern des halbrunden kleinen Turmzimmers. Er mochte seine alten Sachen nicht mehr: Sie gehörten zu seinem früheren Ich und seinem alten Leben, das er nun hinter sich ließ. Das Einzige, was fehlte, war das Buch, das Manuskript, das ihm die Sanitäterin gegeben hatte. Es war nirgends zu finden. Er hatte es im Prüfungsraum zurückgelassen in der Annahme, dass er dorthin zurückkehren würde, aber als er es endlich tat, war es weg. Dekan Fogg und der Butler behaupteten, sie wüssten nicht, wo es sei.
Als er so allein in seinem Zimmer saß, seine gefalteten Kleidungsstücke rings um sich auf dem Bett, dachte er an James und Julia. Gott weiß, was sie glaubten. Ob Julia ihn vermisste? Jetzt, wo er weg war, würde sie da erkennen, dass sie die ganze Zeit den falschen Mann gehabt hatte? Vielleicht sollte er irgendwie mit ihnen Kontakt aufnehmen. Aber was sollte er dann sagen? Er fragte sich, was geschehen wäre, wenn James den Umschlag der Sanitäterin angenommen hätte. Vielleicht hätte er dann auch an der Prüfung teilgenommen. Vielleicht war das bereits Teil der Prüfung gewesen.
Er entspannte sich ein wenig. Er wappnete sich nicht mehr ganz so verkrampft gegen eine imaginäre Gefahr, und zum ersten Mal wagte er zu denken, dass sie vielleicht nicht einmal drohte.
Da er nichts anderes zu tun hatte, streunte Quentin durch das riesige Haus, unbeaufsichtigt und ziellos. Der Dekan und die Lehrer waren freundlich zu ihm, wenn er ihnen zufällig begegnete, aber sie hatten zu arbeiten und mussten sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Es war wie der Aufenthalt in einem schicken Beachresort in der Nebensaison, wie das Umhergeistern in einem Grand Hotel ohne Gäste, in dem es nur leere Räume, leere Gärten und leere, hallende Flure gab. Er aß seine Mahlzeiten allein in seinem Zimmer und trieb sich in der Bibliothek herum – natürlich gab es hier das komplette Werk von Christopher Plovers – und besah sich nacheinander, der Reihenfolge nach, alle Aufgaben, Projekte und Aufsätze, die er niemals würde beenden müssen. Einmal fand er den Weg hinauf in den Glockenturm und verbrachte den ganzen Nachmittag damit, das riesige, rostige Eisenpendel vor- und zurückschwingen zu sehen und die mächtigen Zahnräder und Federn beim Drehen und Ineinandergreifen zu
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