Fillory - Die Zauberer
was geschehen war.
Er stand am Kopfende des langen Esstischs und schien plötzlich gealtert. Während die Kerzen langsam herunterbrannten und die Erstsemester in gedrückter Stimmung die letzten Reste des Bestecks abgeräumt hatten, zupfte er an seinen Manschetten herum und fasste sich an die Schläfen, wo ihm die schütteren blonden Haare ausfielen.
»Es wird keine Überraschung für Sie sein, dass neben unserer noch viele andere Welten existieren«, begann er. »Dies ist keine Vermutung, sondern eine Tatsache. Ich bin nie in einer dieser Welten gewesen, und Sie werden nie dorthin gelangen. Die Kunst, von einer Welt in die andere überzuwechseln, ist ein Gebiet der Zauberei, über das wenig bekannt ist. Wir wissen jedoch, dass diese Welten bewohnt sind.
Möglicherweise war das Ungeheuer, mit dem wir es heute zu tun hatten, physisch gesehen riesig.« (»Ungeheuer«, so nannte Fogg das Ding im grauen Anzug, und danach sprach niemand mehr anders darüber.) »Was wir gesehen haben, war womöglich nur ein kleiner Teil von ihm, eine Extremität, die es sich entschloss, in unsere Existenzsphäre hineinzuschieben, wie ein Kleinkind, das in einer Strandpfütze herumgräbt. Solche Phänomene wurden bereits häufiger beobachtet und sind als Exkreszenzen bekannt.
Seine Motivationen sind schwer zu erraten.« Er seufzte tief. »Für solche Wesen gleichen wir Schwimmern, die ängstlich über die Oberfläche ihrer Welt paddeln, deren Silhouetten sich im von oben einfallenden Licht scharf abheben und die zwar ab und zu ein Stück weit ins Wasser eintauchen, aber nie besonders tief. Normalerweise beachten sie uns gar nicht. Doch leider hat irgendetwas in Professor Marchs Beschwörung heute seine Aufmerksamkeit erregt. Soweit ich verstanden habe, wurde sie in irgendeiner Weise gestört oder unterbrochen. Dieser Fehler eröffnete dem Ungeheuer die Möglichkeit, in unsere Welt einzudringen.«
Bei diesen Worten krampfte sich Quentins ganzes Inneres zusammen, aber er verzog keine Miene. Er war es gewesen. Er hatte das getan. Fogg fuhr fort.
»Das Ungeheuer stieg aus der Tiefe empor wie ein Hochseehai, der einen Schwimmer von unten angreift. Seine Absichten sind unmöglich zu erraten, aber es hatte den Anschein, als habe es irgendetwas oder irgendjemanden gesucht. Ich weiß nicht, ob es gefunden hat, was es gesucht hat. Vielleicht werden wir es niemals erfahren.«
Unter normalen Umständen flößte Foggs Haltung Sicherheit und Vertrauen ein, wenn auch leicht beeinträchtig durch sein übliches, ein wenig lächerliches Aussehen. Doch an diesem Abend wirkte er desorientiert. Er verlor den roten Faden und spielte an seiner Krawatte herum.
»Der Zwischenfall ist beendet. Die Studierenden, die ihn miterlebt haben, werden alle medizinisch und magisch untersucht und anschließend desinfiziert werden, falls das Ungeheuer sie in irgendeiner Weise gebrandmarkt, markiert oder befleckt hat. Morgen fällt der Unterricht aus.«
An dieser Stelle brach er ab und verließ abrupt den Speisesaal. Alle hatten gedacht, er würde mehr darüber erzählen.
Aber all das ereignete sich viel später. Als er dort auf dem Boden lag und der Schmerz in seinen Gliedern allmählich abebbte, empfand Quentin nur Positives. Er war erleichtert, noch am Leben zu sein. Die Katastrophe war abgewendet worden. Er hatte einen furchtbaren Fehler begangen, aber jetzt war alles wieder gut. Er empfand eine immense Dankbarkeit für die alte, splittrige Unterseite des Stuhls, zu dem er aufblickte. Sie war faszinierend und wunderschön. Er hätte sie ewig anschauen mögen. Es war sogar ein bisschen aufregend, so etwas durchgemacht zu haben und davon erzählen zu können. In gewisser Weise war er ein Held. Er atmete tief durch und konzentrierte sich auf den guten, soliden Fußboden unter seinem Rücken. Dann erkannte er, dass er jetzt am liebsten sofort beruhigend die Hand um Alice’ warmen, weichen Knöchel legen würde, der sich dicht neben seinem Kopf befand. Er war so dankbar, sie endlich wieder ansehen zu können.
Da wusste er noch nicht, dass Amanda Orloff tot war. Das Ungeheuer hatte sie bei lebendigem Leib aufgefressen.
LOVELADY
Der Rest von Quentins Drittem Studienjahr in Brakebills verlief unter einem grauen Wasserfarbenschleier beinahe militärischer Wachsamkeit. In den Wochen nach dem Angriff war die Schule sowohl physisch wie auch magisch angeschlagen. Die Dozenten wanderten über den Campus, auf der Suche nach den Grenzen der uralten Verteidigungszauber. Sie
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