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Film Riss: der etwas andere Frankfurter Roman

Film Riss: der etwas andere Frankfurter Roman

Titel: Film Riss: der etwas andere Frankfurter Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Alexander Bonke
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einen Gymnastikball verfehlt.
     
    Ein ungehobelter Klotz von Gegenspieler, seines Zeichens Abwehrknochen mit guten zehn Kilo Kampfgewicht mehr als ich, stellte sich selbstbewusst in den Weg. Ich holte gewaltig aus, peilte aus dem Augenwinkel die Ecke an und zog ab. Ich hielt drauf, er auch — seinen Schlappen. Mit den Stollen voran ging er in den Zweikampf, eine Verletzung des Gegenspielers billigend in Kauf nehmend. Mindestens dunkelgelb war das, aber es gab ja keinen Schiri und meine Mannschaftskameraden trauten sich nicht, zu protestieren. Meine Fußspitze bohrte sich in seine Sohle und mir wurde schwarz vor Augen.
     
    Als ich wieder halbwegs klar denken konnte, fühlten sich meine Zehen immer noch wie gebrochen an, aber das Adrenalin und grenzenlose Aggression peitschten mich hoch. Der Ball war bereits gute 15 oder 20 Meter weg und klebte einem lockenköpfigen Angreifer der Gegner am Fuß.
     
    Ich rannte los, fast blind vor Wut und Schmerz. Tunnelblick eingeschaltet, Großhirn abgeschaltet, Reptilienhirn gab das Tempo vor. Die ersten Meter unrund, dann immer schneller. Die Zähne gefletscht, größere Mengen Speichel im einen und die Zunge im anderen Mundwinkel.
     
    Und tatsächlich, das arrogante Lockenköpfchen ließ sich Zeit. Alleine vor dem Tor, Übersteiger hier, Tänzchen dort. Er fühlte sich so sicher — die Choreografie für den Torjubel war wohl bereits ausgedacht. Noch kurz traumhaft schön den Torwart umkurvt und ein Siegerlächeln für Papi, der an der Seitenlinie stolz wie Oskar seinen Sprössling knipste.
     
    Im Augenblick des größten Triumphs, als Papi den Finger krumm machte, um an seiner beschissenen 80er Jahre Kamera den Auslöser zu betätigen und diesen grandiosen Moment fürs Familienalbum festzuhalten, passierte es. Von hinten rauschte ein tollwütiger, zwangsjackenreifer Zehnjähriger seinem Lockenköpfchen mit solcher Wucht in die Beine, dass das Lockenköpfchen abhob und einen Seitwärts-Überschlag vollführte, der beim Bodenturnen locker eine 1 gegeben hätte.
     
    Ich glaube, ich war nicht der einzige, der das Foto gerne gesehen hätte.
     
    Der Kindergeburtstag war damit beendet und ich wurde in der Folgezeit nicht mehr auf allzu viele eingeladen. Da die Zeit von Kindergeburtstagen sich bereits ihrem Ende zugeneigt hatte und kurz danach die Pubertät um sich griff, war das nicht weiter schlimm. Als die Stehblues- und Flaschendrehen-Partys in großem Stil kamen, war längst Gras über diese Fußballsache gewachsen.
     
    Toll, diese friedlichen Kindheitserinnerungen. Ungebremst schlage ich wieder in der grausamen Realität auf.
     
    Sina verfolgt mich wieder. Szenen aus der Psychatrie. Ihre Vergewaltigung.
     
    Ein Rachefeldzug will wohlüberlegt sein, ich stürze mich in Arbeit. Diese Manie kenne ich von früher, wenn ich unter etwas so stark gelitten habe, dass ich es nicht ertragen konnte. In diesem Zustand taumelte ich zwischen Borderline-Verhalten, Größenwahn und unbändigem Freiheitsdrang hin und her. Ich wollte alles haben und noch viel mehr loswerden — gleichzeitig. Auch Leute, die mir schon mal Unrecht getan haben oder mich verkennen oder mich nicht genug wertschätzen oder mir nicht den Respekt entgegenbringen, den ich verdammt noch mal verdient habe. Also mindestens die halbe Welt.
     
    Nur die beiden großen As konnten dann helfen: Arbeit und Alkohol. Und da Alkohol nun keine Option mehr ist …
     
    "Erst wenn Du alles verloren hast, hast Du die Freiheit alles zu tun."
    (Tyler Durden — Fight Club)
     
    Ja, alles verlieren. Mittlerweile fühlt es sich allerdings so an, als sei es vor allem mein Leben, das ich loswerden möchte. Aber vorher wird noch etwas erledigt.
     
    ***
     
    Samstagabend. Vor wenigen Wochen wurde zu dieser Zeit routineartig die Nacht zum Tag gemacht. Heute wird ein zukünftiges Kriegsgebiet ausgekundschaftet: Das Bahnhofsviertel und insbesondere das Stammlokal von Halil & Co.
     
    Das Bahnhofsviertel bei Nacht … die Lichter, die schiere Größe, fast wie eine eigene Stadt. Nie zuvor strömten alle Eindrücke, Gerüche und Geräusche dieser Gegend so ungefiltert auf mich ein — ich bin schließlich stocknüchtern.
     
    Abstinent wird der innere Abstand zum versoffenen und verdrogten alten Ich schnell groß. Allein schon der Gedanke an die konsumierten Mengen lassen ungläubig erschaudern — da hätte man durchaus das ein oder andere Mal hopsgehen können. Mir ist nie etwas passiert, darüber bin ich erstaunt wie so mancher

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