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Film Riss: der etwas andere Frankfurter Roman

Film Riss: der etwas andere Frankfurter Roman

Titel: Film Riss: der etwas andere Frankfurter Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Alexander Bonke
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eigentliche Ausschaben begann, krallte ich mich mit voller Kraft in die Armlehnen des Stuhls.
     
    Nach kaum einer Minute fragte er das erste Mal:
     
    „Geht das noch?“
     
    „Hm hm!“
     
    Ich nickte so gut ich konnte und ahnte bereits, dass er diese Frage noch ein halbes Dutzend Mal stellen würde.
     
    Etwas auch nur annähernd Vergleichbares hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht erlebt. Es fühlte sich an, als würde er mit einem rostigen Schraubenzieher versuchen, meine Zahnhälse freizulegen. Wie ich später erfahren würde, kam das der Wahrheit ziemlich nahe — nur ohne den Rost.
     
    Die Geräuschkulisse war beeindruckend. Es knirschte, knarzte und quatschte wie in einem Splatterfilm.
     
    Auch die Geruchsbelastung war nicht zu verachten, einige Olf kamen da zusammen. Mich erinnerte das Aroma an brennende Schlachtabfälle. Der gute Doktor und seine Mitarbeiterin machten bei jedem Ausspülvorgang zwei Schritte zurück — trotz Mundschutz.
     
    Die optische Zumutung war allerdings noch größer als die akustische und die olfaktorische. Zahnfleischfetzen, Schnitzelfasern und undefinierbares blutiges Material wurden zutage gefördert. Ein größeres Teil könnte eine ganze Ader gewesen sein. Der Abfluss des Ausspülbeckens verstopfte.
     
    Ich schwitzte wie Gemüse in der Pfanne und trotzdem nur halb so sehr wie mein Zahnarzt. Das Ausschaben meines Mundraums artete für ihn in körperliche Arbeit aus, zudem schien ihm sein ärztlicher Kunstfehler zuzusetzen. Ich musste nichts weiter tun außer stumm zu leiden, um meine Männlichkeit zu beweisen. Die Reste meines Kokainrausches halfen mir dabei.
     
    Als die Tortur vorbei war, konnte ich nur langsam den Griff von den Lehnen lockern — meine Finger hatten sich buchstäblich hinein gebohrt. Tiefe, nasse Löcher waren unübersehbar. Den Stuhl musste er wahrscheinlich wegschmeißen.
     
    Zur Belohnung gab es bewundernde Blicke der Zahnarzthelferin und Komplimente vom Onkel Doktor. Während der ganzen Prozedur war wohl tatsächlich kein einziger Ton von mir zu hören gewesen. Natürlich war ich darauf stolz, ich hatte es mir wieder einmal bewiesen. Was kann schließlich männlicher sein als ohne Betäubung eine amtliche Entzündung aus der Visage gekratzt zu bekommen und dabei keinen Pieps von sich zu geben?
     
    ♫
„… pain is temporary and truth is absolute“
    (Worlds Collide — Absolute)
     
    Glückshormondurchflutet, zitternd und lachend verließ ich die Praxis. Spätestens seit diesem Tag weiß ich, dass ich ein spezielles Verhältnis zu Schmerzen habe und dem Ausgeliefertsein auf dem Zahnarztstuhl seltsamerweise einiges abgewinnen kann. Nur fürs Protokoll: Nein, nichts Sexuelles.
     
    Einige Stunden später stärkte ich mich mit Wasser und Antibiotika und pulte das watteähnliche Material aus meiner Backe, das die Blutung stillen sollte. Ein Schwall rot-gelber Suppe schoss mir entgegen und ich fing wieder an zu zittern. Mit den Händen zog ich vor dem Spiegel die Lippe herunter, ich wollte endlich die ganze Bescherung sehen: Drei freigelegte Zahnhälse und drum herum ein ausgefranstes schwarzes Loch.
     
    Am nächsten Tag hatte ich in Armen und Händen Muskelkater wie niemals zuvor — einzig und allein vom Festhalten am Zahnarztstuhl …
     
    Das Nähen am Unterarm fällt mir heute allerdings deutlich schwerer als letztes Mal, ehrlich gesagt sind die Schmerzen kaum auszuhalten. Nüchtern sind manche Dinge wohl doch echte Herausforderungen. Ich stecke mir einen Weinkorken zwischen die Zähne. Nicht dass mir noch mehr abbrechen, einer pro Tag reicht. Zwei Stiche später ist mein Gebiss bereits durch den Korken geflutscht und ich habe nur noch Brösel im Mund. Versuche es mit dem abgebrochenen Holzgriff einer Schublade, der auf dem Boden zwischen den Flaschen, Scherben und Hartalkseen liegt. Vielleicht hält der ja länger durch.
     
    Ohne Alkohol werde ich in Zukunft öfter auskommen müssen, nicht nur weil ich eben meine Vorräte für ein ganzes Jahr zerstört habe. Ich werde mir keinen neuen mehr kaufen und sollte deshalb meine Verletzungsfrequenz senken — nüchtern zu nähen bringt einen nämlich wirklich fast um.
    Okay, der Fuß ist dran …
     
    Ab jetzt gibt es keinen Suff und keine Drogen mehr, weder harte noch weiche.
     
    Als das Füßchen versorgt ist, kippe ich meine Grasvorräte ins Klo. Ich komme mir dabei vor wie Lucas Gregorowicz als
Stefan
in
Lammbock
— allerdings nur kurz. Das hier ist keine Panikreaktion eines paranoiden

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