Film Riss: der etwas andere Frankfurter Roman
umarmen sie sich jetzt im Schlaf. Wirklich süß.
„Jungs, erzählt mir doch nix, ich war auch mal schwul.“
Aber jetzt muss ich wirklich ins Bett.
9. Countdown
Sina zu besuchen fällt mir schwerer als ich dachte. Ich habe Angst. Als ich vor der psychiatrischen Klinik stehe, bin ich panisch wie kurz vor einem Asthmaanfall. Ein gigantischer Betonblock durchsetzt von endlosen weißen Gängen voller Neonröhren. In ihnen bewegen sich Patienten wie in Zeitlupe. Einige erinnern mich an Maulwürfe, die sich durch ihre gegrabenen Gänge kämpfen. Überall ist es unheimlich ruhig.
Ein Arzt klärt mich mit leiser Stimme über Sinas Zustand auf.
„… Trauma … Alpträume … Angstzustände …“
Die Prognose sei negativ und ich solle nicht zu viel erwarten.
Wie wenig ich denn erwarten solle, frage ich.
Er antwortet nicht und öffnet mir die Tür zu ihrem Zimmer.
Sina liegt im Bett, das Kopfteil ist aufgestellt. Wenn auch mittlerweile clean — als alter Profi, was bewusstseinserweiternde Substanzen angeht, sehe ich sofort, dass sie bis obenhin voll mit Psychopharmaka ist. Ihre Bewegungen sind unsicher, ihre Körpersprache ist fahrig. Sie hat ein Lätzchen um. Noch vom Mittagessen, vermute ich. Die Augen sind trüb geworden und obwohl sie mich ansieht, geht ihr Blick an mir vorbei. Als würde sie schielen.
Ich setze mich an den Bettrand, nehme sie in den Arm und küsse ihren Scheitel. Wie ein Kind betrachtet sie meine frischen, fürchterlich aussehenden Narben am Unterarm und legt die Stirn in Falten. Etwas Spucke tropft ihr dabei aus dem Mund. Das Lätzchen ist eine Dauereinrichtung.
Was ich vielleicht nie für möglich gehalten hätte, überwältigt mich: In genau diesem Moment sind meine Gefühle für sie stärker als jemals zuvor. Nie habe ich Sina mehr geliebt als jetzt, nie habe ich irgendjemanden mehr geliebt als sie. Bedingungslos, sexlos.
Leider ist das keine Liebe mehr, die sich gut anfühlt. Sie tut weh und schnürt mir den Hals zu, so dass ich keine Luft mehr bekomme. Zu bedrückend ist ihr Zustand.
Tränen fallen in ihre Haare, ohne dass sie etwas davon mitbekommt. Sie soll nicht sehen, wie ich weine — deshalb halte ich sie fest im Arm.
Ich drücke Mund und Nase an ihren Kopf und sauge ihren Geruch auf. Dieser Duft macht mich süchtig und löst bei mir Glücksgefühle aus. Ich nehme mehrere tiefe Atemzüge hintereinander. Nach kurzer Zeit lässt die euphorisierende Wirkung nach. Es kommt mir vor, als würde mein Atem ihren Geruch zerstören.
Wir haben immer noch kein Wort gesprochen. Sagen kann ich nichts — sie würde an meiner Stimme sofort hören, dass ich heule.
Die Wunden in ihrem Gesicht sind gut verheilt, wie ich sehe. Ich habe allerdings mehr Angst vor denen, die ich nicht sehe. Die dafür sorgen werden, dass die Sina von früher nie wieder zurückkommt.
***
„Things fall apart; the centre cannot hold”
(William Butler Yeats — Second Coming)
Alles fällt auseinander, auch die Mitte stimmt nicht mehr. Das Gedicht geht mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich die Tür von Sinas Zimmer leise hinter mir geschlossen habe. Während meines ganzen Besuchs wurde kein einziges Wort gesprochen. Diese Stille scheine ich aus der Klinik mitgenommen zu haben, ich bin absolut ruhig.
Sina war fast wie ein Geist. Sie so friedlich zu sehen hat mich verändert. Mir ist vollkommen klar, dass sie durch Medikamente ruhiggestellt wird und sich ohne Psychopharmaka völlig anders verhalten würde. Trotzdem hat mich die Art, wie sie ihr Leid erträgt, ausgeglichener gemacht. Mein Selbstmitleid ist weniger geworden, weil sie mir gezeigt hat, dass es auch ohne geht. Wie sie meine frischen Narben untersucht hat — als wäre ich derjenige, dem etwas zugestoßen ist.
Mein Hass ist dank ihr plötzlich kontrollierbar, ich kann ihn besser in die richtigen Bahnen lenken. Ich glaube, ich habe meinen Fokus wiedergefunden.
Ich genieße meine neugewonnene Ruhe, fast schon ein Seelenfrieden im Vergleich zu den letzten Tagen und Wochen. Komme mir dabei vor wie Antonio Banderas in
Desperado
vor der entscheidenden Schießerei mit
Buchos
Truppen.
Früher meditierte ich regelmäßig. Zen-Meditation mit Kerze und Kissen im Lotussitz, Achtbarkeit üben mit gestrecktem Rücken. Volle Konzentration auf alle Sinne bei anfangs geschlossenen, dann halboffenen Augen.
Nach fünfzehn Minuten Meditation bereue ich, jemals damit
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