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Filzengraben

Filzengraben

Titel: Filzengraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Reategui
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retten, das Angelino weggenommen hatte. Er wollte, dass alle satt werden. Er wollte Angelino nichts Böses tun. Er hat ihm doch auch nichts getan.
    Giacomo schluchzt lautlos. Nur die Nonna sieht es. Sie steht auf und zieht ihn zu sich auf den Schoß. Aber er will nicht zur alten Zanotti, er will zur Mutter, sehnt sich in ihre Arme, dass sie ihn tröstet. Damit er weinen kann um den kleinen Bruder, der immer lustig war und vergnügt. Nonna Zanotti streicht ihm das Haar aus der heißen Stirn. Aus weiter Ferne hört er sie eine Ninna Nanna singen. »Fa la nanna, pargulin.« Die zittrige Stimme lullt ihn ein.
    In dieser Nacht schläft er bei der Nonna. Sie hat ihm ein Bett neben der Feuerstelle gemacht. Er riecht noch die ungewohnte Umgebung, das verbrannte Holz, das modrige Wasser im Tonkrug. Ihre Röcke dünsten nach Zwiebeln und Rosmarin, als sie sich zu ihm setzt und seine glühenden Beine mit eiskalten Tüchern umwickelt. Dann sieht er wieder Angelino fallen, auch er fällt, jemand packt ihn an den Knöcheln und zieht ihn in die Tiefe. Dicke, weiche Wolkenberge umhüllen ihn.
    Seit dieser Nacht hat er nie mehr neben Matteo auf dem Laubsack gelegen und hat die Mutter nie mehr mit ihm geredet. Als der Winter vorbei ist, nimmt ihn der Vater mit nach Cannobio an den großen See. Er zeigt ihm, wie man in die Kamine steigt, um den Ruß von den Schornsteinwangen zu kratzen. Eines Tages bekommt der Vater das Fieber, und als Giacomo am nächsten Morgen neben ihm in der zugigen Unterkunft aufwacht, ist er kalt wie eine Bachforelle.
    Â»Angelino. Die Mutter mochte ihn lieber als alle anderen.«
    Giacomo sagte es ganz ruhig. Auf einmal tat es nicht mehr weh. Er fühlte sich ganz leicht. Er zog die Wolldecke enger um den Körper. Die Köchin schob ihm den Becher mit heißem Wein hin. Er schmeckte bitter, sie musste Kräuter darunter gemischt haben. Wie die Nonna, wenn einer von ihnen auf der Alm krank gewesen war. Sie war sicher längst gestorben, die Nonna.
    Â»Grazie.«
    Der Verband an seinen Händen war schmutzig und verrutscht. Von überall her im Haus drangen Geräusche an sein Ohr. Durch die geöffnete Küchentür sah er die Knechte die angekokelten Möbel in den Hof schleppen. Einmal erschien Anna in der Küche, aber die Köchin schickte sie wieder weg.
    Â»Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um ihn«, rief die Köchin ihr hinterher, und er verlor sich wieder in vergessene Bilder. Langsam dämmerte der Tag herauf. Er dehnte den Rücken, streckte die Arme. Im Hof schlug eine erste Amsel. Einmal hatte er in Piodabella ein verletztes Bussardjunges gefunden. Fünf Tage lang hatte er es gepflegt und gefüttert, dann war es trotzdem gestorben. Angelino bastelte ein Kreuz aus Holzstöckchen, gemeinsam setzten sie es auf das winzige Grab und sprachen ein Gebet. L’anima a Dio, la racumand . Amen.
    Er erhob sich steif. Im Vorhaus war die Magd dabei, die verrußten Steinfliesen zu schrubben. Der Brandgeruch hing beißend im Raum. Durch die geöffneten Fenster strömte kühle Morgenluft. Als Bonifaz die Truhe mit den Vorhängeschlössern in den Hof bringen wollte, packte er mit an.
    Frau Gertrude fuhr am frühen Nachmittag vor, Herrn Dalmontes Reisewagen hielt gegen sechs Uhr abends im Filzengraben. Sie ersparten es Johanna, im Salon zu decken. Wie sonst nur sonntags bestand der Spediteur darauf, dass sich alle in der Küche zum Essen versammelten. Er hatte Merckenich dazu gebeten und auch den Brandherrn und Simon Kall mit ihren Männern, die sich auf eine gute Mahlzeit freuten. Nur der Ratsherr rutschte ein wenig unbehaglich auf seinem Platz hin und her. Er war die harten Sitzflächen nicht gewohnt.
    Giacomo hatte einen Platz ihm gegenüber zugewiesen bekommen. Neben Merckenich saß Anna. Sie musste sich ausgeruht haben, denn er hatte sie den ganzen Nachmittag nicht mehr gesehen. Sie trug ein frisches Kleid und den Silberreif am Handgelenk. Er ähnelte dem goldenen Armring der Gentildonna. Nie mehr hatte er eine so schöne Frau gesehen. Aber nie zuvor war ihm auch ein Mädchen begegnet mit einem Punkt im Auge, der, wenn es ihn ansah, leuchtete wie Maronen im Herbst. Es roch nach Brot in der Küche, im Kessel über dem Feuer dampfte die Suppe. Abendmücken tanzten im letzten Sonnenlicht. Giacomo konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal an einer so üppigen Tafel gesessen hatte. Es

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