Filzengraben
unterm Steindach verstaut. Ein ganzes Jahr müssen sie reichen.
Den halben Weg bis hinunter nach Albogno ist Giacomo hinter Angelino hergerannt, um ihm das Brot abzujagen. Alle müssen davon satt werden. Die Mutter und Giovanna, Rosa, Matteo, Carlotta und natürlich auch der Kleine. Vor allem aber er, denn er hat Hunger. Immer hat er Hunger. Morgens, wenn er aufsteht, und nachts, wenn er neben Matteo und Angelino in die Bettstatt kriecht. Dann kneift und beiÃt ihn der Magen. Die trockenen Buchenblätter in den Matratzensäcken rascheln und knistern, wenn er sich hin- und herwälzt. Es dauert lang, bis der Schlaf kommt.
Giacomo packt Angelino bei den Händen. Mit seinen acht Jahren ist er schon kräftig. Er will dem Kleinen die Finger aufbiegen, Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger. Sie krallen sich um den Brotlaib, weià spannt sich die Haut über die Knöchel. Angelino wehrt sich, Tränen kullern ihm übers Gesicht und hinterlassen dreckige Spuren, aber er kann sie nicht wegwischen, er muss seine Beute festhalten, das duftende schwarze Brot. »Mir!«, verteidigt er sich und weicht ein paar Schritte zurück. Da stolpert er, der linke Fuà tritt ins Leere. Der groÃe Bruder sieht, wie Angelino strauchelt, sich rückwärts überschlägt. Wie er über die Böschung stürzt, der Kopf gegen einen Stein prallt. Die Hände können das Brot nicht mehr halten, sie lassen den Laib los, er fällt in unerreichbare Tiefe. Auch der schmächtige Körper des Kindes rutscht weiter, hoppelt und rollt den Hang hinab. Immer schneller und schneller, wie der Stoffball, den der Pfarrer den Geschwistern im September mitgebracht hat, als er sich nach Monaten einmal wieder der drei Familien erinnerte, die hier oben auf der Alm hausen, und er übellaunig den beschwerlichen Aufstieg nach Piodabella auf sich nahm. Um seinen Pfarrkindern den Segen Gottes zu erteilen und der alten Lucia Zanotti die letzte Ãlung. Schon die dritte inzwischen, man kann ja nie wissen.
Endlich bleibt Angelino auf einem Felsvorsprung liegen. Die Beine seltsam verdreht, die dünnen Ãrmchen abgewinkelt. Von hier oben sieht er aus wie Carlottas Lumpenpuppe. Er schreit auch nicht mehr. Totenstille herrscht unter der Nebeldecke. Nur ein Bussard zieht seine Kreise über den aschgrauen Wipfeln der Bäume.
»Ich habe ihn doch geliebt«, sagte Giacomo. Tonlos. Arme und Rücken von kaltem Schweià bedeckt. Das Gesicht bleich. Er wusste nicht, wo er war. Er würgte, aber es kam nichts. In seinem Kopf drehte sich alles, es pfiff und surrte in den Ohren. Wieder würgte er. Dann legte er sich zur Seite, sein Kopf sank auf eine harte Unterlage, ein Stück Holz, ein Stein, Eis überzogen. Es kühlte seine Stirn.
Nur langsam kam er wieder zu sich. Er lag auf einer Bank, irgendjemand musste ihm eine Decke übergelegt haben, er hatte es nicht gemerkt. Das Eis war geschmolzen, die Berge verschwunden. Er erkannte Johanna neben sich, die Küche im Filzengraben. Er fror noch immer, aber das Ohrensummen war leiser geworden.
Die Köchin half ihm, den Kopf zu heben. Löffel für Löffel flöÃte sie ihm eine heiÃe Flüssigkeit ein. Wie einem Kind. Er schluckte widerspruchslos.
»Wen hast du geliebt?«, fragte sie. »Moritz?« Sie zündete einen zweiten Leuchter an. Schatten sprangen an der Wand hoch. DrauÃen war noch immer Nacht. Giacomo begann zu weinen.
Eine einzige Kerze flackert auf dem Tisch, um den alle versammelt sitzen. Die Schwestern mit Matteo, der wie immer spuckt und sabbert und unverständliches Zeug brabbelt, am Kopfende die Mutter mit verheultem, aufgequollenem Gesicht. Sie dreht sich weg, als er die Stube betritt. Auch die Nachbarn sind da, Nonna Zanotti mit ihren vier unverheirateten Töchtern, die nie einen Mann abbekommen haben. Die Kinder ihrer Söhne, die vor Jahren aus dem Tal weggegangen sind. Und die Ziegen-Maria mit ihrer Tante, deren Mann an der Mosel eine andere Frau gefunden hat und sich weigert, in die Berge zurückzukommen. Nicht einmal Geld schickt er mehr.
Sie gucken ihn an, als ob er Lepra hätte.
Mit Ausnahme des zuckenden Lichts ist der Tisch leer. Keine Schüsseln, keine Becher sind aufgetragen worden. Er hat Hunger, aber Angelino ist nicht mehr, und das Brot liegt irgendwo zwischen Gestrüpp und Geröll. Die Mäuse werden sich daran gütlich tun. Und die Mutter schaut ihn nicht an. Er wollte das Brot
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