Filzengraben
ungewöhnlich lang gedauert. Fast zwei Stunden. Zwischendurch war das Gespräch lebhaft geworden. Manchmal steigerte sich Madames Stimme erregt und brach dann empört gicksend ab, worauf er antwortete, sein dunkles Timbre zwischen Nachgiebigkeit und Rechtbekommenwollen. Anna kannte die beiden gut genug, um zu wissen, um was es ging.
»Ruf diesen Giacomo!«, befahl ihr Frau Gertrude auf der letzten Treppenstufe. »Und dich will er auch sprechen.« Es klang so barsch, wie ihr Gesicht missmutig dreinschaute.
Dalmonte hatte sich hinter seinen Schreibtisch verschanzt, als Anna und der neue Hausbewohner eintraten. Wie immer thronte der Papagei auf der Schulter seines Herrn, brabbelte vor sich hin oder zog an dessen wenigen verbliebenen Haaren. Der gönnte es ihm.
»Ich glaube, er hat eine Belohnung verdient«, brummte der Spediteur, und Anna fragte sich, wen er meinte: den Papagei, der das Haus aus dem Schlaf geweckt, oder Giacomo, der bis zum Umfallen Wasser geschöpft hatte.
»Und nun zu euch beiden.«
Anna linste zu Giacomo, der halb hinter ihr stand. Gleich läuft er davon, dachte sie und machte einen Schritt zurück, sodass sie zwischen ihm und der Tür zu stehen kam. Dabei fürchtete sie sich selbst vor dem, was Dalmonte gleich sagen würde.
»Bleib du ruhig hier, Anna. Was hast du dir dabei gedacht, einen wildfremden Menschen nachts ins Haus zu lassen, wo niemand da war?«
Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte es ihm doch erklärt. Warum also dieser Vorwurf? Sie wich ihm aus.
»Johanna war da. Auch Bonifaz, Matthias und Severin. Resa hat geschlafen«, gab sie zu.
»Und du glaubtest, du konntest so einem hergelaufenen Kerl trauen?«
Anna schwieg. Giacomo vor ihr rührte sich nicht, nur seine rechte Hand ballte sich zur Faust. Sie spürte seine Angst.
»Ihr habt doch Tilman auch vertraut. Und all den Jungen, die aus dem Vigezzotal kamen und für Euch gearbeitet haben«, erwiderte sie leise.
»Einmal bin ich reingefallen.«
»Aber nur einmal.«
Dalmonte hüstelte. Er verschwand mit seinem Kopf hinterm Schreibtisch, wo er in der untersten Lade die Tüten mit Trockenfrüchten für den Papagei aufbewahrte. Der Vogel war auf den Boden geflogen, trippelte hin und her und schnarrte aufgeregt. Als Dalmonte wieder nach oben kam, war er etwas rot im Gesicht, um seine Mundwinkel zuckte es noch. Aber er bemühte sich um ein ernstes Gesicht, als er Giacomo ansprach:
»Dein Vater war CarlÃn Felice?«
Giacomo nickte kaum merklich.
»Meine Mutter hat ihn gekannt. Als ich sie vor ihrem Tod das letzte Mal besucht habe, hat sie mir von dem Unglück erzählt.«
» A lâo mia tucò .«
Giacomo sagte es in der Sprache seiner Heimat. Anna verstand nicht.
»Ich habe ihn nicht gestoÃen«, wiederholte Giacomo.
Dalmonte kam um den Schreibtisch herum und blieb vor Giacomo stehen.
»Ich glaube dir«, sagte er, nachdem er ihn lange angeschaut hatte. Es war sehr still im Kontor. Selbst der Papagei oben auf dem Schrank rührte sich nicht. Nach einer Ewigkeit kehrte Dalmonte zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. Wie von einem Bann erlöst, kam der Vogel herabgeflogen und kroch unter Dalmontes Hausrock. Er ruckte hin und her, bis er mit dem Kopf wieder zum Vorschein kam und Giacomo herausfordernd beäugte.
» Signur  �«
»Sì?«
»Leben meine Geschwister noch?«
»Ich weià es nicht.«
Aus der Küche kam das leise Klappern von Töpfen und Tellern, der Geruch von Gebratenem und heiÃem Fett.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Dalmonte.
»Noch einmal von vorne anfangen. Weg von der StraÃe. Etwas lernen.«
»Ich mache dir einen Vorschlag.«
Anna klopfte das Herz bis zum Hals bei Dalmontes Worten.
»Du begleitest meine nächste Lieferung nach Süden. Ich glaube, ich habe da etwas, das bis nach Basel muss. Mai, Juni, Juli sind gute Reisemonate. Du lieferst die Ware ordnungsgemäà ab und reist dann weiter ins Vigezzotal, nach Craveggia. Ich wollte schon lange der Schule dort Geld zukommen lassen. Wenn du das erledigt hast, geh nach Piodabella! Aber vor Wintereinbruch will ich dich wieder hier in Köln sehen. Bonifaz ist nicht mehr der Jüngste, und ich glaube, er wäre froh, wenn du ihm unter die Arme greifst.«
Anna atmete auf. Sie hatte es gewusst, Herr Dalmonte würde alles tun, um einem Landsmann zu
Weitere Kostenlose Bücher