Filzengraben
ihr gut. Aber was würde es bedeuten, wenn sie ihn heiratete? Würde er seiner Ehefrau so viel Selbstständigkeit zugestehen, wie sie Dalmonte ihr einräumte? Sie sehnte sich zurück nach dem sorglosen Leben, das sie als Kind an Deck der Samoureuse erlebt hatte. Um dorthin zurückzukehren, müsste sie einen Schiffer heiraten, einen Mann wie ihren Vater.
Und da war noch etwas: Janne hatte geglüht vor Freude, als Jupp damals um ihre Hand angehalten hatte.
»Hör mal!«, hatte sie gesagt, und Anna hatte ihr Ohr an ihre Brust gepresst und Jannes Herz vor Aufregung hämmern gespürt.
Sie setzte sich auf und legte beide Hände auf ihr Herz. Nichts. Mit einem Mal war sie wütend auf ihren Vater.
SECHZEHN
Eine Schar Neugieriger drängelte sich aufgeregt schwatzend um den Mann mit dem schwarzen Schlapphut. Im dunkelroten Hutband steckte eine lange weiÃe Feder. Von überall her strömten die Leute zusammen, Kinder schubsten und zwängten sich an den Erwachsenen vorbei nach vorn, niemand wollte sich das Schauspiel entgehen lassen. Mit Klock drei, so hatte mit fremdländischem Akzent ein schwarzhaariger Junge dem Mülheimer Marktvolk den ganzen Morgen über verkündet, würde ihnen ein Tier, wie sie es noch nie gesehen hätten, das Wetter voraussagen. Für nur einen halben Stüber pro Person. Nach der Wetterprophecie gäbe es für jeden ein Tiegelchen Ãl vom Fett des Wundertieres. Das einzig wahre Mittel gegen schmerziges GliederreiÃen! Und alles zusammen für nur eineinhalb Stüber. Ausnahmsweise. Und nur heute.
Der Mann mit Hut war auf ein Podest geklettert, damit ihn jeder sehen konnte. Dort hatte er einen Tisch aufgebaut und darauf eine groÃe Holzkiste gestellt. Giacomo beobachtete ihn von seinem Platz unter der Linde aus, wo er seine Fläschchen mit Aqua mirabilis anpries. Aber er war nicht bei der Sache. Der Anblick des Savoyers mit dem Käfig erinnerte ihn an eine Kindheit, an die er nicht mehr erinnert werden wollte. Und trotzdem wartete er ungeduldig darauf, dass der andere den Kasten aufmachte, um das Tier, das darin eingesperrt saÃ, herauszulassen.
Gespannt reckten die Leute die Hälse, als die Uhr des Kirchturms schlug. Doch der Aussteller lieà sich Zeit. Sein kleiner Helfer quetschte sich durch die Menschenmenge und sammelte das Spektakelgeld ein. In der Mütze des Jungen klimperten die Münzen . Es klang verlockend in Giacomos Ohren.
»Los, fang schon an!«, rief jemand, das Publikum wurde zunehmend ungeduldiger. Für sein Geld wollte es endlich etwas geboten bekommen.
»Et voilà , Mesdames, Messieurs, la marmotte voyante !«
Der Mann riss den Hut vom Kopf und deutete eine Verbeugung an, dann zog er die vordere, in einer Nut eingelassene Wand der Kiste mit einem Ruck hoch, sein Gehilfe schlug einen Trommelwirbel. In der Sonne blitzten die mit Metall ausgeschlagenen Innenwände des Käfigs.
Die Leute, die auf der anderen Seite der Kiste standen, murrten laut, weil sie nichts sehen konnten. Einige forderten ihr Geld zurück. Die anderen aber, die die Schnauze der geheimnisvollen Kreatur herausgucken sahen, schrien »Ah!« und »Oh!« und klatschten Beifall. Geduckt und ein wenig verschlafen kroch das Wesen ins Freie, groÃe schwarze Knopfaugen blinzelten ins ungewohnte Licht. Mit einem Mal richtete das Tier seinen rundlichen Körper auf, machte Männchen, streckte die Nase in die Luft und nahm Witterung auf. Wer nur seinen Rücken sah, konnte meinen, es hätte keine Beine. Hellbraun glänzte das dichte Fell, nur am Kopf war es schwärzlich gefärbt.
»Ein Murmeltier!«, rief jemand besserwisserisch von hinten.
»Jawohl, ein Murmeltier, une marmotte !«, schrie der Schausteller. Mit einer geschickten Bewegung lieà er die Tischplatte auf einem unsichtbaren Sockel langsam kreisen. Wer sich beklagt hatte, dass er nichts sehe, verstummte ehrfürchtig.
»Und nun passt auf: Wenn die Marmotte im Freien sitzen bleibt, während ich bis zehn zähle, werden wir sonnige und warme Tage bekommen. Wenn sie sich aber schon vorher wieder in ihre Kiste zurückzieht, wird es regnen und noch einmal kalt werden.« Der Savoyer begann laut zu zählen.
Bei »vier« fiel die Menge mit ein: »â¦Â fünf, sechs, sieben â¦Â«, grölte sie, »â¦Â neun und zehn!«
Das Tier hatte sich nicht gerührt.
»Mesdames, Messieurs, das Murmeltier
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