Filzengraben
dem kleinen toten Mann stehen, den sie alle gekannt hatten. Ein Mädchen bückte sich, berührte einen Finger, eine flüchtige Berührung, ein Wissenwollen, wie sich der Tod anfühlt. Erschrocken zog sie ihre Hand wieder zurück.
Auch Anna betete. Ein langes Gebet. Und als sie fertig war, fing sie wieder von vorn an. Sie fühlte sich unendlich allein. Als sie Pfarrer Forsbach mit Simon Kall an den Stufen zur Nikolauskapelle stehen sah, zwang sie sich, zu ihnen hinüberzugehen.
»Wo haben sie ihn gefunden?«
»In dem leer stehenden Haus in der Holzgasse. Unter einem Haufen Bretter«, berichtete der Bürgerhauptmann. »Ein paar Kinder haben dort Verstecken gespielt.«
»Ich habe schon immer gesagt, man sollte diese alten Häuser einreiÃen oder wenigstens Türen und Fenster vernageln.« Pfarrer Forsbach legte schützend seinen Arm um Anna. Sie zitterte. Er hatte das Gefühl, er müsste ihren Vater oder zumindest Signor Dalmonte vertreten. Da hielt es Anna nicht mehr aus, Tränen rannen ihr übers Gesicht, ihre Beine trugen sie nicht mehr. Simon Kall half ihr, sich auf die Treppe zu setzen.
»Ich wollte heute Nachmittag schon mit Euch sprechen. Wir haben die Mörder gefunden«, sagte sie, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte.
»Fast wenigstens«, korrigierte sie sich.
Was, wenn Giacomo doch gelogen hatte? Immer wieder kamen die Zweifel hoch. Er war am Sonntagnachmittag aus der Holzgasse gekommen, als sie Tilman suchte â und nicht fand. Hatte das etwas zu bedeuten? Es gab nur zwei Möglichkeiten, sagte sie sich laut. Entweder Giacomo gehörte zur Verbrecherbande und war nur zufälligerweise in der Nacht des Schiffsüberfall nicht dabei gewesen, dann müssten sie weiterhin in Angst und Schrecken leben. Oder Giacomo hatte die Wahrheit gesagt, und die beiden Männer, die ihn angegriffen hatten, waren dieselben, die das Schiff überfallen hatten. Dann drohte ihm das gleiche Schicksal wie Tilman. Der Bürgerhauptmann pflichtete ihr bei.
»Und Ihr wisst, wo wir diesen Giacomo finden können?«, fragte er.
»Vielleicht um den Severinskirchplatz herum. Auf Märkten. Ich wollte, ich wüsste es.«
Anna konnte nicht einschlafen. Gegen elf schlich sie hinunter in die Küche, um sich eine heiÃe Milch zu machen. Der Geschmack von Schokolade lag ihr auf der Zunge, lieà sich nicht unterdrücken. Nur ein Löffelchen. Oder auch zwei. Vielleicht hatte Johanna noch etwas in einem ihrer vielen geheimen Töpfe und Tiegel, in die sie niemanden hineingucken lieÃ.
In der Küche flackerte Licht, die Tür stand einen Spaltbreit auf. Vorsichtig streckte Anna ihren Kopf durch die Ãffnung. Der Tisch war nur zur Hälfte abgeräumt, ein Putzlappen hing in seltener Unordentlichkeit über einer Stuhllehne. Auf der Ofenbank saà Johanna. Der Kopf war ihr auf die Brust gesunken, sie atmete ruhig und tief. Dann bemerkte Anna den alten Bonifaz. Er hatte sich auf der Bank ausgestreckt, sein Kopf ruhte im breiten Schoà der Köchin, die Hand hatte er unter ihre Röcke geschoben, lag dort auf den weichen Oberschenkeln der Frau. Er schlief tief und fest wie ein Kind und wachte auch nicht auf, als Johanna den Kopf hob und blinzelte, um zu sehen, wer hereinkam. Ohne eine Spur von Verlegenheit gab sie Anna ein Zeichen, sich zu ihr zu setzen.
»Ein bisschen Wärme tut gut«, sagte sie. Dann schob sie seine Hand zur Seite, hob sachte Bonifazâ Kopf hoch, stand vorsichtig auf und bettete den Kopf des Knechts auf ein Kissen. Bonifaz brummte ein wenig, drehte sich zur Wand und schlief weiter.
»Was soll ich machen, mein Herz? Ein Junger nimmt mich ja nicht mehr«, kicherte die Köchin wehmütig und strich sich die Schürze glatt. »Ich vermute, du kannst genauso wenig schlafen wie ich? Die Sorgen halten einen wach. Der arme Tilman.« Ihre Trauer war echt, sie jammerte um den Toten und um den Verlust ihrer Jungmädchenzeit.
»Ein Becher heiÃe Milch mit Honig? Das hält Leib und Seele zusammen.«
Anna nickte dankbar. Sie fegte die Brosamen vom Tisch und wischte die Platte sauber. Die Köchin und der Alte! Seit wann ging das schon? Ihr war bisher nie etwas aufgefallen, auch das Gesinde hatte sie nie darüber klatschen gehört. Johanna schien ihre Gedanken zu lesen.
»Seit Maria weg und das Haus so traurig ist.«
Jetzt wurde die Köchin doch ein bisschen rot, aber sicher war
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