Final Cut - Etzold, V: Final Cut
Messer und das Blut waren nicht die ganze Wahrheit.
Es waren die Augen. Die Augen des Mädchens, die in die Kamera geblickt hatten. Augen, in denen man ertrinken konnte. Augen, die Clara beinahe vorwurfsvoll anschauten. Augen, die Clara schon einmal so angeschaut hatten.
Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.
Der von Todesangst gezeichnete Blick des Mädchens auf der CD-ROM, die völlige Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und gleichzeitig der winzige Funken Hoffnung, der noch einmal vor der schwarzen Wand des Unvermeidlichen aufflackerte, bevor er von einem gigantischen Stiefel ausgetreten wurde.
Holst du mich ab?
Das Mädchen war älter gewesen als Claras Schwester damals, aber das änderte nichts am Ergebnis.
Wieder war ein Leben ausgelöscht worden.
Und Clara hatte es wieder nicht verhindern können.
***
Sie zog den tropfenden Regenmantel aus, wobei sie dem Pförtner kurz zunickte, den Eingangsflur des LKA Richtung Aufzug hinunterging und auf die Uhr blickte. 23.20 Uhr. Sie fuhr in ihr Büro im dritten Stock, um ihre Sachen zusammenzupacken und dann zu versuchen, ein wenig zu schlafen. Zwei Polizisten hatten vor dem LKA bereits auf sie gewartet und ihr mitgeteilt, sie stehe heute Nacht unter Polizeischutz, jedenfalls, solange die Sache nicht eindeutig geklärt sei. Meinetwegen , hatte Clara gesagt, es gibt Schlimmeres.
Sie hängte den Regenmantel zum Trocknen über den Stuhl in der Kaffeeküche, in der sie sich heute Nachmittag Kaffee eingeschenkt hatte, vor dem Plausch mit Winterfeld am Fenster, als die Welt noch in Ordnung gewesen war und zwei Wochen Urlaub vor ihr lagen.
Sie ging in ihr Büro, nahm ihren Laptop aus der Dockingstation und steckte unbewusst eine der Kopien der CD-ROM in ihre Tasche. Sie wollte gerade das Licht der Schreibtischlampe ausknipsen, als sie das Blinken auf ihrer Mailbox sah. Sie drückte den Abhörknopf.
Es war Friedrichs Stimme.
»Guten Abend, Frau Vidalis. Sie waren plötzlich weg und hatten das Handy wohl auch nicht dabei, aber vielleicht hören Sie ja diese Nachricht.« Er räusperte sich. »Ich habe Rückmeldung von dem Produzenten bekommen. Er sagt, der Film habe die ganze Zeit die gleiche Bildeinstellung, die gleiche Perspektive und die gleiche Entfernung des Mädchens zur Kamera. Kein Schnitt, kein Zoom, nichts, wodurch man mit vertretbarem Budget irgendwelche Tricks einbauen könne.«
Clara wurde die Kehle eng.
Friedrich sprach weiter.
»Das ist kein Spezialeffekt. Das ist echt.«
16.
Torino stoppte den Wagen vor der großen Halle, griff seine Tasche und ging mit schnellen Schritten zum Eingang. Er ging sofort in die Maske, als Jochen auftauchte, der wegen seines massigen Körpers, der grünen Glupschaugen und der borstigen roten Haare auch »Schweine-Jochen« genannt wurde, und ihm die letzten Instruktionen gab.
Das Konzept war denkbar einfach: Up or out. Entweder die Dame kam einen Level weiter, oder sie flog raus. Die Sendung wurde zunächst live im Internet gesendet. Torino hatte dreißig Prozent Stimmanteil, die User siebzig Prozent. Wenn die User also wollten, dass eine Dame weiterkam, mussten sie Torino überstimmen. Stimmte Torino mit out , also null Prozent, mussten demnach mehr als siebzig Prozent der User für die Kandidatin stimmen, damit das Gesamtergebnis fünfzig Prozent betrug.
Torino schritt die Reihe der Mädchen ab wie ein Drill Instructor der US Marines auf Paris Island.
»Sehen wir den Dingen ins Auge«, sagte er. »Einige von euch sehen sehr gut aus, und ihr habt es geschafft, über unsere Casting-Website in diese Sendung zu kommen. Irgendwelche pubertären Internet-User haben euch gewählt und dafür sogar noch Geld hingeblättert. Könnt ihr stolz darauf sein? Ein bisschen vielleicht, aber nicht zu sehr. Denn das Ganze hat natürlich eine Kehrseite. Die Typen, die euch gewählt haben, wollen etwas dafür haben. Und zwar euch .«
Er hatte die Reihe abgeschritten und ging wieder zurück. »Habt ihr die Wahl? Ich fürchte, nein. Ich gebe mich keinen Illusionen hin. Ich weiß, dass die meisten von euch zu dumm zum Geradeauslaufen sind. Ihr glaubt doch, Waterloo wäre das neue Spaßbad in Aquaworld und die Zauberflöte ein Sextoy von Beate Uhse. Ihr glaubt, dass ihr alle reich und berühmt werdet, und das mit möglichst wenig Arbeit. Am besten mit einem reichen Macker, der die ganze Woche in der Welt unterwegs ist und euch während dieser Zeit seine Villa zur Verfügung stellt, wo ihr euch
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