Final Cut - Etzold, V: Final Cut
ruhten.
Clara merkte, wie ihr etwas Saures, Ekelhaftes die Speiseröhre hinaufkroch. Dann fing das Mädchen an zu sprechen.
»Ich ... bin Jasmin«, stammelte sie, als würde sie einen Text vorlesen, und das Zittern ihres Körpers übertrug sich auf ihre Stimme, sodass sie wie ein stakkatohaftes Tremolo klang. »Ich ... ich bin bereits tot, doch das Chaos geht weiter.«
Silvia hielt sich die Hand vor den Mund und stürzte aus dem Zimmer.
»Ich bin nicht die Erste ...« Das Mädchen kniff die Augen zusammen und blickte ein letztes Mal beinahe hoffnungsvoll in die Kamera, als könnten die Zuschauer sie retten. Clara kam es vor, als würde das Mädchen ihr direkt in die Augen schauen. Sie spürte die Säure in ihrer Speiseröhre, spürte, wie irgendeine deformierte Hand nach ihrer Seele griff, um sie zwischen schuppigen, klauenbewehrten Fingern zu zerquetschen.
Dann geschah etwas mit den Augen des Mädchens. Sie wurden leer, vollkommen ohne Hoffnung. Wie die Augen eines Menschen, der längst tot ist.
»... und ich bin nicht die Letzte.«
Das Messer blitzte auf und fuhr mit eiskalter Präzision über die Kehle des Mädchens. Sie riss die Augen auf, schockgeweitet, erfüllt von einem Ausdruck zwischen Erstaunen und Erlösung. Dann öffnete sich die Wunde, die das Skalpell des Mörders geschlagen hatte – eine nur millimeterbreite Öffnung, die zuerst wie eine kosmetische Unregelmäßigkeit aussah, während die Augen des Mädchens durch die Kamera hindurch in die Ewigkeit starrten.
Die Zeit im Raum schien stillzustehen. Kein Laut war zu hören bis auf das Knistern der Zigarilloschachtel, die Winterfeld in der Hand zerdrückte.
Dann kam das Blut. Es kam niemals sofort, es kam immer ein bisschen später, aber es kam. Es strömte eine halbe Minute lang, während die schwarzen Hände regungslos verharrten.
Der Kopf des Mädchens sank nach unten.
Der Bildschirm wurde schwarz.
13.
Die längste Sekunde war die, in der das Grauen auf sich warten ließ, bevor es sich manifestierte.
Die Sekunde, die vergeht, nachdem ein Mensch etwas Furchtbares gesehen hat und bevor er es als wirklich akzeptiert. Die Sekunde, nachdem das erste Flugzeug ins World Trade Center gerast war, bis auf der anderen Seite des Gebäudes der riesige Flammenball aus der Fensterfront hervorbrach.
Oder die Sekunde, nachdem ein Messer eine Kehle durchschnitten hat und bevor das Blut sich wie ein Sturzbach des Grauens aus der Wunde ergießt.
Es war dunkel geworden. Sie saßen in Winterfelds Büro und schwiegen. Clara, Winterfeld und Friedrich. Eine Kopie des Films war bereits auf elektronischem Weg nach Wiesbaden unterwegs. Dort würde man die Daten über die Physiognomie des Mädchens durch den Großrechner beim BKA jagen. Kurz zuvor hatte die Spurensuche mitgeteilt, dass sich auf dem Umschlag tatsächlich echtes Blut befand. Alles andere hätte Clara auch gewundert. Jetzt war der Umschlag auf dem Weg in die Gerichtsmedizin, ebenso die CD-ROM, von der die IT-Abteilung mehrere Kopien gezogen hatte. Wenn die Forensik fertig war, würden die Computerexperten sich wieder über die CD-ROM hermachen und prüfen, ob noch andere Dateien darauf waren, IP-Adressen zum Beispiel – alles, was Hinweise geben konnte. Und vielleicht waren ja doch Fingerabdrücke darauf. Oder sie war mit einem seltenen Lippenstift beschriftet, der Rückschlüsse auf den Täter erlaubte.
Und die größte Hoffnung von allen: Vielleicht war alles nur ein Spezialeffekt.
Doch Clara glaubte nicht daran. MacDeath hatte auf dem kurzen Dienstweg einen Produzenten für Horrorfilme kontaktiert, ihn kurzerhand ins Revier beordert, ihn eine Vertraulichkeitserklärung unterschreiben lassen und ihm eine Kopie in die Hand gedrückt.
Sie haben sicher schon schlimme Dinge gesehen? , hatte er gefragt.
Der Horrorfilm-Produzent mit dem Heavy-Metal-T-Shirt und den langen, schmierigen Haaren hatte genickt.
Aber nicht so etwas. Könnte nämlich sein, dass es echt ist. Bevor Sie Alpträume davon bekommen, lassen Sie es lieber. Wir wollen nur wissen, ob es ein Spezialeffekt sein könnte.
Ihr hört noch heute Nacht von mir , hatte der Produzent erklärt und war mit der CD verschwunden.
VIEL SPASS
Clara beendete die bedrückende Stille. Zum Handeln gab es keine Alternative. Das Leben hatte sie gelehrt, dass es immer besser war, etwas zu tun. Manchmal war es sogar besser, das Falsche zu tun als gar nichts.
»Okay«, sagte sie. »Wenn das echt ist – und ich fürchte, es ist echt –, haben wir es
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