Final Cut - Etzold, V: Final Cut
dass es mit dem Telefonieren nicht klappt. Würden gerne mal wieder deine Stimme hören. Aber dir scheint es ja gut zu gehen.
Jasmins Antwort: Ja, mir geht es gut. Habe es gestern versucht, aber ich habe den Eindruck, dass Skype von der chinesischen Regierung blockiert wird. So wie Google. Aber mir geht es wirklich gut, und wir sehen uns ja spätestens Ende Oktober wieder.
Früher schrieb man Ansichtskarten. Hätte man sie fälschen wollen, hätte man die Handschrift fälschen müssen. In der digitalen Welt des Austauschbaren musste man gar nichts mehr fälschen. Auch den Stil konnte man leicht nachahmen, schließlich gab es genug gespeicherte Mails, die die Person schon geschrieben hatte. Alles war gleich – und wurde trotzdem als einzigartig gesehen. Denn wenn eine Mail aus dem Account von Jasmin Peters oder ihrem Facebook-Konto kam, dann war sie von Jasmin Peters.
Ja?
Nein.
Clara hatte die Schuhe ausgezogen und setzte sich im Schneidersitz auf ihren Schreibtischstuhl. Irgendwie konnte sie in dieser Haltung am besten nachdenken. Sie hatte ihr Notizbuch aufgeschlagen. Auf eine der großen Seiten hatte sie ein Diagramm gekritzelt.
Jasmin Peters 13, stand dort.
Was hatte die 13 zu bedeuten? War es nur die Hausnummer? Sonnenallee Nummer 13? Oder bezog sich die Nummer in irgendeiner Weise auch auf das Opfer?
Clara dachte an die Worte des Opfers: »Ich bin nicht die Erste – und ich bin nicht die Letzte.«
War es auch die Zahl des Opfers, wenn es ein Serienmörder war?
Das dreizehnte Opfer?
Hatte der Killer bereits zwölf andere Frauen getötet, deren Mumien irgendwo lagen?
Aber warum hatte er dann erst jetzt auf sich aufmerksam gemacht? Hatte das wieder mit der speziellen Verbindung zwischen ihr, Clara, und dem Mörder zu tun, auf der MacDeath immer so herumritt? Oder lag es daran, dass in diesem Fall die Nummer des Opfers und die Hausnummer seiner Wohnung zufällig gleich waren? Dass der Täter diesen einen Fall gewählt hatte, um aus der Deckung zu kommen?
Clara dachte an die U-Bahn, die an der Schönhauser Allee aus dem Untergrund hervorkam und ein Stück an der Oberfläche fuhr, im hellen Licht. Mit Schrecken jeder Art verhielt es sich genauso. Sie waren stets präsent, ob man sie sehen konnte oder nicht. Die U-Bahn fuhr auch dann, wenn man sie nicht sah. Morde geschahen und blieben unentdeckt, Leichen wurden versteckt und nie gefunden. Schreie gellten durch die Dunkelheit und wurden nie gehört. Ungesehen, ungehört, irgendwo unter der Oberfläche. Doch irgendwann bricht das Grauen hervor, erblickt das Licht des Tages, um in seiner abgrundtiefen Bosheit die Sonne zu verdunkeln und dann wieder abzutauchen in die lichtlose Unterwelt, aus der es hervorgekrochen war.
In dem Moment, in dem die U-Bahn aus dem Untergrund kommt, kann man sie beobachten und studieren, aber nur für kurze Zeit, dachte Clara. Dieses Zeitfenster muss man nutzen, bevor sie wieder verschwindet und unsichtbar wird.
Sie zeichnete ein Diagramm auf die Seite. Ein Mädchen mit dem Namen Jasmin, dahinter ein schwarzer Mann. Vor Jasmin der Computer, davor die Außenwelt.
Was brauchen Menschen, damit sie sich keine Sorgen um andere machen müssen?
Antwort: Keine störenden Faktoren, die diese Sorglosigkeit trüben können.
Sie zeichnete zwei Kästchen.
Der erste Kasten: Keine Gerüche. Mumifizierung.
Was noch?
Die Gewissheit, dass der andere noch da ist, da die Miete gezahlt wird, weil er Mails schreibt, postet und auf Nachrichten antwortet.
Der zweite Kasten: Lebenszeichen.
Lebenszeichen, auch wenn man tot ist.
Das war der letzte Teil der Wertschöpfungskette. »After Sales« nannte man das im Vertrieb. Dafür sorgen, dass der Kunde zufrieden ist, keine Reklamationen kommen und das Produkt nicht umgetauscht wird.
Clara umrahmte die zwei Kästchen Mumifizierung und Lebenszeichen mit einem großen Kasten. Überschrift: After Kill.
Was war »Before Kill«?
Sie hatten die Videoaufnahme verglichen. Jasmin hatte auf dem Stuhl vor dem Sekretär in ihrem Schlafzimmer gesessen, den Laptop vor sich. Das Videoprogramm und die Webcam des Mac hatten ihre Hinrichtung aufgenommen, der Killer mit dem Messer hinter ihr.
Es war in ihrer Wohnung geschehen.
Warum hatte sie nicht geschrien?
Hoffnung, dachte Clara. Vielleicht hatte der Killer ihr gedroht, dass er ihr etwas noch viel Furchtbareres antut, wenn sie schreit. Hoffnung sorgt dafür, dass man bis zum Ende glaubt, alles würde irgendwie doch noch gut ausgehen. Was hätte es gebracht,
Weitere Kostenlose Bücher