Final Cut - Etzold, V: Final Cut
»das halte ich für unwahrscheinlich. Die allermeisten Vergewaltiger sind Männer, ebenso wie die meisten Serienkiller. Ich nehme an, unser Täter wurde von einem Mann missbraucht.«
»Extreme sind offenbar männlicher Natur«, seufzte Clara.
MacDeath nickte. »Der Grund, weshalb es keinen weiblichen Michelangelo und keinen weiblichen Mozart gibt, ist der, dass es auch keinen weiblichen Jack the Ripper gibt.«
»Ist das ein Kompliment oder ein Armutszeugnis für das weibliche Geschlecht?«
»Nehmen Sie es, wie Sie wollen, aber es ist Fakt«, sagte MacDeath und setzte sich. »Aber weiter im Text.« Er werkelte wieder an der Höhenverstellung seines Schreibtischstuhls herum. »Folgen wir der Statistik, und gehen wir davon aus, dass ein Mann der Vergewaltiger unseres Killers war. Gehen wir weiter davon aus, dass dieser Mann unseren Killer in jungen Jahren missbraucht hat.«
»Ein Pädophiler? Und gleichzeitig ein Homosexueller?« Clara hob erstaunt die Augenbrauen.
»Es gibt einiges, was dafür spricht«, sagte MacDeath. »Schauen Sie sich an, mit welch offensichtlicher Freude unser Killer den homosexuellen Jakob Kürten als Marionette benutzt hat. Wir sollten glauben, er sei der Mörder.« Vor Claras innerem Auge erschien die ans Bett gekettete Leiche Kürtens, die so mumifiziert und vertrocknet war, dass man das Geschlecht kaum noch hatte zuordnen können. »Und denken Sie an die zynische Art und Weise, wie er sich in der Mail über Kürten lustig macht.« MacDeath beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf die Stelle des Berichts.
Sie dachten sicher, Sie hätten mich. Doch Sie haben nicht mehr Erfolg, als der vertrocknete Jakob Kürten noch Blut in seinen Venen hat.
»Die Ermordung Kürtens und möglicherweise anderer Männer, in deren Identität er schlüpfte, um Frauen zu kontaktieren und zu ermorden, war zum einen ein Instrument. Ein Instrument, um sich als wirklicher ›Namenloser‹ unsichtbar zu machen, auf den keine Indizien zurückführen und der tatsächlich wie Edgar Allan Poes Mann in der Menge als unsichtbarer Verbrecher die Großstadt unsicher macht.« Er hielt kurz inne, als müsste er seine Gedanken ordnen. »Zum anderen war es möglicherweise eine stille Rache an der Homosexualität an sich – indirekt an der Person, die ihn als Kind oder Jugendlicher missbraucht hat.«
»Warum hat er dann nicht gleich nur Männer getötet?«, fragte Clara.
»Langsam«, sagte MacDeath, »wir dürfen hier nicht Pflicht und Kür durcheinanderwerfen. Jakob Kürten – und wer sonst noch irgendwo da draußen tot und vertrocknet in seinem Bett liegt – war die Kür, die es ihm einfacher macht, uns zu täuschen. Doch wirklich gebraucht hat er sie nicht. Die Frauen , das war die Pflicht.«
Clara schloss die Augen, um nachzudenken. Als sie sie wieder öffnete, sagte sie: »Er brauchte die Identitäten der Männer, um die Frauen zu töten und lange genug unerkannt zu bleiben, um sein Werk zu vollenden, was immer dieses Werk sein mag?«
»Exakt.«
»Während aber die Männer nur Werkzeuge waren, waren die Frauen die Opfer, mit denen er irgendein früheres Opfer möglicherweise um Verzeihung bitten will?«
MacDeath kniff die Lippen zusammen und nickte. »Vom jetzigen Stand unserer Erkenntnis her nicht unwahrscheinlich.«
»Und die Katharsis?«, fragte Clara. »Die Reinigung? Spielen da die Frauen eine Rolle?«
MacDeath lächelte verschmitzt. »Was glauben Sie?«
Clara musste ebenfalls lächeln. »Wenn Sie schon so fragen, dann ja. Aber warum?«
»Nun, was könnte der pädophile, homosexuelle oder wie auch immer geartete Vergewaltiger mit unserem damals jugendlichen Killer gemacht haben?«
Clara zuckte mit den Schultern. »Ihn befummelt, erniedrigt, zum Oral- oder Analverkehr gezwungen haben.«
»War unser Killer dabei der aktive oder passive Part?«, fragte MacDeath.
»In seinem damals jugendlichen Alter sicher der passive Part.«
MacDeath nickte. »Unser jugendlicher Killer musste den Vergewaltiger also möglicherweise oral befriedigen, und der Vergewaltiger hat ihn anal missbraucht. Klingt das plausibel?«
Clara wunderte sich ein wenig über die Details, auf denen MacDeath herumritt, aber es schien wichtig zu sein. »Ja, das klingt plausibel.«
MacDeath lehnte sich zurück. »Das heißt, der Namenlose musste, wie man in Schwulenkreisen sagt, die Frau spielen. «
Claras Augen weiteten sich. »Und indem er die Frauen im Hier und Jetzt tötet, vollzieht er die Katharsis?«
»Gut möglich. Er tötet
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