Final Cut - Etzold, V: Final Cut
wieder Dunkelheit. Und Konturen, die im Licht der Taschenlampen unvermittelt aus dem Unsichtbaren der Nacht auftauchten – von der Finsternis ins Licht und wieder zurück. Neben der Zimmerpalme stand eine Kommode mit einem Dutzend Urlaubsfotos. Vor dem Flickenteppich aus huschenden Lichtern und Schatten waren die Gesichter der Menschen auf den Fotos zu flackernden Fratzen verzerrt.
Das Licht kroch weiter.
Auf das Bett. Die Bettdecke, das Kissen. Dann zwei nackte Füße. Ein weißes Kleid.
»Hier ist etwas!«, rief Marc. Zwei weitere Lichtkegel huschten zu ihm.
Da lag jemand auf dem Bett. Den Konturen nach konnte es eine Frau sein, in einem weißen Nachthemd, die Hände über der Brust gefaltet. Das Weiß, mit Spitzen besetzt, blitzte im Kontrast zur öligen Dunkelheit hervor. Aber da war noch etwas anderes, das einen noch stärkeren Kontrast zum strahlend hellen Weiß der Lichter bildete, etwas, das im kalten Licht der Maglites fast ebenso dunkel erschien wie die Finsternis außerhalb der Lichtkegel selbst. Es waren dunkle Flecken und Spritzer auf dem Kleid.
Blut?
»Julia Schmidt, hier ist die Kriminalpolizei. Wir möchten Ihnen helfen. Wenn Sie mich hören können, sagen Sie etwas.« Das war Clara.
Keine Antwort.
Und es wurde sehr schnell klar, warum keine Antwort kam.
Die Lichtkegel durchschnitten die Dunkelheit über dem Bett, krochen nach oben, über den Solarplexus, die gefalteten Hände, die gewölbte Brustpartie, das Schlüsselbein, den Hals ...
Winterfeld zog zischend die Luft ein, als das Licht dort verharrte. Als klar war, dass die Person auf dem Bett nicht schlief, dass sie nicht betäubt war, dass sie nicht bloß vor sich hin dämmerte und mit Ammoniak aus der Bewusstlosigkeit geholt werden konnte.
Als klar war, dass Julia Schmidt nicht mehr lebte.
Denn im Licht der Lampen war zu sehen, dass sich dort, wo der schlanke Hals der Frau gewesen war, nun ein zerklüfteter Krater auftat, der noch dunkler war als die tintenschwarze Nacht.
Und dort, wo der Kopf gewesen war, befand sich jetzt nur noch ein blutiger Stumpf, der aus dem weißen Nachthemd ragte, von hervorstehenden Knochenteilen und zerfaserten Sehnen umgeben.
Clara musste tief Luft holen. »Dekapitation«, flüsterte sie, und das Licht ihrer Taschenlampe zuckte hektisch nach rechts und links.
»Wir brauchen einen Scheinwerfer!«, rief Winterfeld. »Schnell!« Hastige Schritte auf dem Flur, die rasch leiser wurden.
Der Lichtkegel von Claras Taschenlampe glitt nach unten, zurück über den blutigen Krater über dem spitzenverzierten Ausschnitt des Kleides, die gefalteten Hände und die schlanken Füße, die gerade nebeneinander am Fußende des Bettes ruhten wie bei der Statue einer Märtyrerin.
Dann bewegte das Licht sich nach oben.
Als der Lichtkegel schon weiterhuschte, hatte Claras Hirn ihr mit einer Schonzeit von einer halben Sekunde bereits gemeldet, was sie einen Lidschlag zuvor wahrgenommen, aber noch nicht verarbeitet hatte.
Einen Meter nach links.
Clara bewegte die Lampe nach links.
Zu dem Regal über dem Bett. Auf dem sie vorhin eine Gipskopie der Venus von Milo gesehen hatte.
Und neben der Venus war das, was Claras Hirn registriert hatte.
Julias abgetrennter Kopf, umrahmt von blonden Haaren, die im kalten Licht der Maglite wie Blitze strahlten, stand auf dem Regal und starrte Clara mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund an. Die Mundwinkel waren wie zu einem Grinsen nach oben gezogen, als wollte sie sagen: Willkommen, Fremde, in meinem Reich.
Das Gedicht der Moorgeister, das Claras Großmutter ihr als Kind erzählt hatte, war plötzlich in ihren Gedanken, während das Licht ihrer Lampe noch einen Augenblick auf dem Kopf des Mädchens ruhen blieb, um dann die Wände rund um diese Szenerie des Grauens abzutasten.
Ihr, die ihr kommt, geht langsam hier,
Wie ihr jetzt seid, so waren wir.
Genau über dem Kopf, zehn Zentimeter über den letzten Strähnen von platinblondem, im kalten Schein der Lampen strahlendem Haar, standen auf der hellgelben Wand ein Wort und eine Zahl in dunkelroter Farbe, fast so dunkel wie die Nacht.
Nummer 14.
31.
Ich glaube an das, was genau jetzt stattfindet. Ich glaube an nichts, was nach dem Jetzt sein wird. Ich spreche zu euch.
Jetzt!
Der Traum geht weiter.
Erwachen ist Erinnerung. Doch dies hier ist rasende, zeitlose Präsenz.
Leben wir den Traum.
Es reicht, wenn man aufwacht, kurz bevor man stirbt.
Ich sehe den Film noch einmal in meinem Kopf. Ich habe vor der Fahrt die
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