Finale auf Föhr
setzte sich auf eine dunkelbraune Holzbank. In ihrem Rücken wusste sie das Haus der Siewerings. Hinter dem Grasstreifen auf der Landseite des Deiches, einem breiten Dickicht von Heckenrosen und einer von der Sonne verbrannten Wiese mit kleineren Baum-und Buschgruppen lag die große Villa, über deren Bewohner so viel Elend gekommen war. Ina fühlte Mitleid für die Familie, auch wenn sie Frau Siewering nicht wirklich sympathisch fand. Aber ihre Stiefkinder hatten sie wirklich berührt. Sie dürfe sich nicht von Gefühlen leiten lassen, hatte Asmussen ihr einmal gesagt, als sie einen sympathischen Verkehrssünder mit einer guten Begründung für sein Fehlverhalten laufen lassen wollte. Peters hingegen sagte, dass sie immer in sich hineinhorchen solle. Häufig würden Gefühl und Intuition helfen, wo Augen, Ohren und Verstand versagten. Wer kannte sich da nun aus!
Sie setzte sich ein wenig herum, sodass sie Richtung Wyk blickte, aus den Augenwinkeln aber auch die Villa beobachten konnte. Ein Mann in kurzer Hose und weißem T-Shirt näherte sich, bahnte sich einen Weg durch das Rosengestrüpp. Ina hatte gar nicht gesehen, dass da ein kleiner Pfad existierte. Natürlich, der kürzeste Weg zum Strand! Für einen Augenblick setzte ihr Herzschlag aus. Es war tatsächlich Leon Siewering!
Etwa zehn Meter vor ihr betrat er die Deichkrone und begann zu laufen. Sie sah jetzt auch, dass er Sportschuhe anhatte. Sie stand auf, fühlte den Kloß im Hals, wollte sich räuspern. Der junge Mann blickte sie an, durch sie hindurch, lief weiter. Er hatte sie nicht erkannt. Oder wollte mit ihr nichts zu tun haben.
Ina sank auf die Bank zurück, die Beine wie Pudding. Scheiße, scheiße, scheiße! Sie machte sich hier zum Affen, für nichts und wieder nichts. Sie schlug mit der geballten Faust gegen die Rückenlehne der Bank, damit der Schmerz sie auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Klar. Er wollte nichts von ihr wissen. Oder schlimmer noch, er hatte sie nicht mal wahrgenommen. Sie. Ina-Maria Meyer, 21, nicht unattraktiv, Polizeimeister-Anwärterin aus Eckernförde, derzeit im Praktikum auf Föhr, existierte für ihn einfach nicht. Sie spürte Groll in sich aufsteigen. An sich war das ungerecht ihm gegenüber, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Dann sollte der Schnösel doch sehen, wo er blieb, Trauer hin oder her!
*
Das letzte Foto vor dem Unfall war schon ganz fleckig, abgegriffen und voller Risse. Wie oft hatte er es schon in die Hand genommen, angeschaut, gestreichelt! Die Flecken kamen von den Tränen, den einzigen, die er nach seiner Kindheit geweint hatte, abgesehen von dem Tag der Geburt seiner Tochter. Einmal hatte er das Foto sogar nachts unter dem Kopfkissen gehabt, aber es war am nächsten Morgen ganz zerknittert gewesen. Nur mit Mühe hatte er es wieder einigermaßen glätten können. Die Erinnerung an die beiden Menschen auf dem Bild war das Einzige, was ihn über die Jahre am Leben gehalten hatte. Und der Gedanke an Rache.
Hat sie ein Motiv?
Acht Uhr dreißig. Ina Meyer ging mit der Kaffeekanne durch den Flur. Ihr als einziger Frau in dem Männerladen war natürlich gleich nach Dienstantritt auf der Insel die Aufgabe zugefallen, die Herren immer mit Nachschub an Kaffee und Tee zu versorgen. Föhr – Schlusslicht der Emanzipation! Nach einer Weile hatte sie diesen »Dienst« aber schätzen gelernt. Sie konnte nämlich unaufgefordert jederzeit überall auftauchen, sogar im Allerheiligsten des Chefs.
Inzwischen hatte sie auch die kleine Küche des Gebäudes auf Vordermann gebracht. Die Putzfrau sorgte zwar für Sauberkeit, da gab es keine Beanstandungen. Aber es fehlte an Liebe und Gemütlichkeit. Also hatte sie zu ihrem eigenen Erstaunen ihrer Mutter einige ältere, aber noch schöne Tischdecken abgeluchst, dazu ein paar Vasen. Einiges von dem alten, schäbigen Besteck, diverse Uraltbecher und angeschlagene Teller hatte sie entsorgt und dann die Kollegen moralisch erpresst, ihr als Dank für ihre Serviceleistungen Geld für eine gescheite Besteck-und Geschirrausstattung zu geben. Den in einer Ecke der Küche hängenden, drei Jahre alten Kalender der Polizeigewerkschaft hatte sie als Erstes weggeschmissen und dafür bei einer der Wyker Buchhandlungen für den Preis eines Lächelns einen aktuellen Föhr-Landschaftskalender abgestaubt. Vorteilsnahme war das ja nicht, Kalender des laufenden Jahres wurde die Buchhandlung sowieso nicht mehr an zahlende Kunden los. Schließlich hatte sie das Schwarze Brett auf
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