Finale Mosel
zur Übertreibung. Eine gewisse Theatralik gehörte zu seinem Beruf, das nehme ich ihm nicht übel.«
»Das wird das Gericht zu beurteilen haben.«
»Kann sein, dass René sich eine Strafmilderung von belastenden Aussagen versprochen hat, obwohl es eine Kronzeugenregelung bei uns in Deutschland gar nicht gibt.«
»Wo waren Sie am Samstagabend zwischen 23 und 24 Uhr?«
»Auf der Bühne und dann im Zelt.«
»Ununterbrochen? Mussten Sie nicht mal zwischendurch raus?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
*
Als Walde zur Wohnungstür hereinkam, duftete es nach Essen. Was es war, konnte er nicht erraten. In Annikas Zimmer wurde eine Schublade zugeknallt. Ihr Kopf erschien in der Tür. »Endlich!«
Er ging zu ihr, bückte sich und umarmte sie.
»Bist du schon bettfein?«
Annika nickte.
»Auch schon die Zähne geputzt?«
Sie nickte wieder.
»Sagst du Mama noch gute Nacht?«
Während sie barfuß und leichtfüßig ins Wohnzimmer lief, lockerte Walde auf dem Weg zum Schlafzimmer die Lederriemchen am Halsausschnitt und streifte sich das Hemd über den Kopf. Er schnappte sich ein T-Shirt, hängte das nasse Hemd ins Bad und begrüßte kurz Doris.
Annika lag schon im Bett, neben sich für ihren Vater genügend Platz lassend. Das Buch ,Kannst du nicht schlafen, kleiner Bär?’ lag aufgeschlagen vor ihr. Als Walde sich neben sie legte, griff er nach dem Buch.
»Aber ich lese doch heute!« Sie klammerte ihre kleinen Hände um den Einband.
»Ach so!« Walde schob sich ein Kissen in den Nacken, machte es sich so bequem wie möglich und lauschte. Die ersten Sätze las er noch mit. Sie hatte die Geschichte bereits so oft gehört, dass sie sich Wort für Wort eingeprägt hatte. Nach und nach ließ der einlullende Tonfall seiner Tochter ihn die Augen schließen und sich vorstellen, wie der Bärenvater immer wieder sein Buch zur Seite legte und aus seinem gemütlichen Sessel aufstand, um eine weitere Lampe zum Bett des Bärenkindes zu bringen.
Dem Ploppen des zuschlagenden Buches folgte ein Schmatzer auf seine Wange. Er öffnete die Augen. Annika hatte das Licht gelöscht. An der Decke strahlten die fluoreszierenden Sterne wie in einer mondlosen Nacht. Er drehte den Kopf zur Seite und schaute in die ganz nahen Augen seiner Tochter.
»Du hast ganz toll gelesen.« Er setzte sich seufzend auf. Am liebsten wäre er liegen geblieben. »Schlaf’ gut und träum’ was Schönes.«
»Aber nicht lange.«
»Warum, hast du noch was vor?«
»Ich muss doch in die Nachtschule«, entrüstete sie sich.
»Stimmt. Das hätte ich fast vergessen.« Walde schwang seine Beine aus dem Bett. »Wie kommst du eigentlich dahin?«
»Mit meinem Freund.«
»Darf ich den mal kennen lernen?«
»Den kannst du nicht sehen.«
»Warum?«
»Der ist …«
»Unsichtbar?« fragte er.
Sie nickte.
»Dann viel Spaß.« Er ging aus dem Zimmer, ließ wie immer die Tür angelehnt und das Licht in der Diele brennen.
*
Auf dem Herd in der Küche stand ein großer Topf. Walde hob neugierig den Deckel, schloss die Augen und sog den Duft in die Nase: Gemüsesuppe.
»Sie ist noch warm.« Doris kam herein. »Frisch vom Markt. Den Rest friere ich ein.«
»Falls ich was übrig lasse.« Walde schöpfte sich einen Teller voll und balancierte ihn zum Tisch.
In Annikas Hochstuhl saß ein Stoffbär mit fleckigem Lätzchen und verschmierter Schnauze.
»Annika hat geübt, ihr Brüderchen zu füttern.« Doris stellte ein Körbchen mit geschnittenem Baguette neben Waldes Teller.
»Tiefenbach scheint tief in den Drogensumpf abgerutscht gewesen zu sein. Und anschließend hat er die halbe Münchner Schickeria verpfiffen.«
»So eine Art Kronzeuge?«, fragte Doris.
»Manchmal macht die Staatsanwaltschaft einen Deal, um Zeit oder Geld zu sparen oder um in geschlossene Zirkel einzudringen, was weiß ich. Jedenfalls sind zwei aus der Münchner Koksclique zurzeit in Trier, der Gastdirigent Orthauser und der Paparazzo Gorzinsky.«
»Und was ist mit Tiefenbachs Frau?«, fragte Doris.
»Sie hat angedeutet, dass es nicht immer so einfach war mit ihrem Mann. Der Prozess gegen Orthauser sollte eine Woche nach dem gegen Tiefenbach beginnen. Ein verurteilter Tiefenbach wäre gezwungen gewesen, auszusagen. Wäre der Prozess geplatzt, hätte er die Aussage mit der Begründung verweigern können, sich nicht selbst belasten zu wollen.«
»Vielleicht wollte man Tiefenbach nur verletzen, um damit seinen Prozess platzen zu lassen«, sagte Doris. »Hört sich nach einer Frauensache
Weitere Kostenlose Bücher