Finaler Rettungskuss: Baltasar Matzbachs neunter Fall (German Edition)
mal den Kaffee rüber. Danke. Ich bin überhaupt nicht krankgeschrieben; keine Ahnung, woher die Schnapsidee kommt. Nee, wir haben ja Sommerferien; deswegen keine Schule. Eigentlich hätt ich wegfahren wollen, bin dann aber zu Haus geblieben. Nix Dolles, nebenbei, bloß so ‘ne kleine Wohnung in Nideggen, nicht weit von der Schule.
Die Coralie? Also, ganz früher, kurz nach dem Mittelalter, haben wir, nee, unsere Vorfahren, die haben ja noch richtig Französisch gehabt in der Schule und in Frankreich Deutsch, und mein Vater hat mal ‘nen Austausch gemacht; heut fahren die Gören ja alle nach Amerika. Jedenfalls hat er da in ‘ner Familie gewohnt, und da gab’s ‘ne Tochter, die hieß Coralie, die hat er wohl nett gefunden, oder wenigstens den Namen, und da haben meine Eltern mich dann später so genannt.
Wenn ich ‘nen Bruder gehabt hätte? Keine Ahnung, ich glaub, der Junge, mit dem mein Vater damals den Austausch gemacht hat, hieß Gustave; ich glaub aber nicht, daß mein Bruder Gustav geheißen hätte.
Vielleicht plapper ich ja deswegen so viel. Einzelkind. Alles, was sonst drei oder vier Kinder an Lärm gemacht hätten, hatt ich ja allein zu produzieren. Irgendwer muß doch die Luft mit Geräuschen anreichern, sonst kann man’s nicht aushalten. Oder? Kannst du lange schweigen? Nicht nur, wenn ich grad red? Na ja, kannst du wahrscheinlich; besonders redselig bist du ja nicht.
Also Oswin. Den kenn ich von früher. Wir sind beide in Schleiden aufgewachsen, selbe Schule, bloß ich hab das Abi mit Ach und Krach hingekriegt, er hat’s geschmissen und ist dann zum Bund. Wie du, nehm ich an, ja? Was bist du gewesen, eh du raus bist? Hauptfeldwebel? Ohne Abi is nix mit Offizier, oder? Aber bleiben wir bei Oswin. Wir waren mal zusammen, paar Monate. Hat mir ‘nen Maibaum aufgestellt, damals, und ein anderer hat den nachts abgebaut, in vier Teile zersägt; wie das bei den Jungs eben so ist. Ich glaub, dann haben sie sich geprügelt und später zusammen gesoffen; ist, glaub ich, auch normal, oder?
Aber … da ist immer noch ein Loch. Ich weiß überhaupt nicht, wo Oswin jetzt so plötzlich herkommt und was ich hier mache. Ich geh gleich noch mal draußen nachgucken, ob ich nicht doch was verloren hab. Ich mein, kein Ausweis, kein Geld, kein Handy, bloß die paar Schlüssel in der Hosentasche.
Ja, klar, hier; hatt ich die dir noch nicht gezeigt? Ich nehm an, das da ist mein Hausschlüssel. Wohnungsschlüssel. Briefkasten. Und der hier, klar, steht VW drauf. Aber ich weiß nicht, was für ‘nen VW ich hab. Ob ich überhaupt ‘nen Wagen hab. Und wo der sein könnte. Ich weiß ja nicht mal, ob ich Make-up benutze, wenn ich welches hab. Scheiße. Ob das alles irgendwann wiederkommt?«
Sie redete und redete. Sie war nett anzusehen dabei, mit ihren sprühend grünen Augen unter dem roten Schopf, mit dem ovalen Gesicht und den lebendigen Lippen. Sie hatte kurze, unlackierte Nägel, und so ohne Gepäck war gar nicht festzustellen, was sie sonst noch an Utensilien brauchte oder an Dingen besaß, aus denen man auf ihre Lebensumstände hätte schließen können.
Ich lieh ihr meine Zahnpasta, und in einem Schränkchen im Bad fanden sich mehrere noch verpackte Zahnbürsten. Während sie sich fertigmachte, räumte ich die Küche auf und fragte mich, ob ich ihr alles glauben konnte. Die rätselhaften Erinnerungslücken … Vielleicht wollte sie mir nicht mehr sagen. Andererseits hatte die Ärztin ja behauptet, so etwas könne vorkommen, und ich erinnerte mich an Kameraden mit solchen Lücken, die sich nach und nach wieder aufgefüllt hatten.
Ich half ihr, im Garten nach möglicherweise verlorenen Gegenständen zu suchen, aber weder dort noch auf dem schmalen Weg am Feldrand hinter den Gärten war etwas zu finden. Gereon, der vielleicht hätte suchen helfen können, war nirgendwo zu sehen.
»Vielleicht sollten wir uns einfach ins Auto setzen und durch die Gegend fahren«, sagte ich, als wir wieder in der Küche standen.
»Parkplätze abklappern?« Sie schob die Unterlippe vor.
»So ähnlich. Kann ja sein, daß irgendwo ein Passat oder Polo oder so rumsteht, mit … was hat Nideggen für ein Kennzeichen?«
»Uh. Düren. Dee enn.« Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und schüttelte den Kopf. »Da war grad was. So, als ob ich mich an eine Autonummer erinnern könnte. Ist aber wieder weg.«
»Kommt vielleicht, wenn du den Wagen siehst.«
Also fuhren wir los. Das Dorf – »Siedlung« wäre wohl das bessere Wort
Weitere Kostenlose Bücher