Finger, Hut und Teufelsbrut
dass sie bis in die frühen Morgenstunden lauthals
Frère Jacques
und
Je ne regrette rien
schmetterten, die einzigen Lieder, zu denen alle außer Bocuse den Text kannten.
Mitternacht
Das Licht am Ende des Tunnels sind die Scheinwerfer eines herannahenden Zuges.
Seifferheld machte sich die größten Vorwürfe.
Er hätte irgendetwas tun müssen. Warum hatte er nur an Rani Chopra gezweifelt? Sie hatte sich das alles nicht nur aus Liebe eingebildet. Hätte er von Anfang an mit der Faust auf den Tisch gehauen, dann hätte man dem Kulturattaché vielleicht doch mehr Schutz angedeihen lassen, und die Entführung hätte verhindert werden können.
Ach Quatsch, wieso machte er sich etwas vor: So wichtig war er nicht mehr – war er noch nie gewesen –, als dass er den Gang der Geschichte, will heißen das Prozedere bei der Polizei, zu beeinflussen vermocht hätte.
Nun war es ohnehin zu spät.
Was Seifferheld schon am späten Nachmittag erfahren hatte, war der Öffentlichkeit später in der
Tagesschau
und in
Heute
(oder eine Viertelstunde früher auf
Spiegel online
) bekanntgegeben worden. Die Welt hatte mit Entrüstung reagiert. Geändert hatte das nichts.
Die Faktenlage blieb, wie sie war.
Seifferhelds Meinung nach hatten sich die Entführer zum Zeitpunkt der Videoaufnahmen mit ihrem Opfer noch in Schwäbisch Hall befunden. Zu schnell hatten die Sicherheitsmaßnahmen gegriffen, waren Streifenwagen und Polizeihubschrauber vor Ort gewesen. Wären die Täter über Land gefahren oder auf die Autobahn geflohen, hätte man sie entdeckt. Außerdem musste jemand Rani im Vorhinein beobachtet haben. Jemand, der gesehen hatte, wo sie den USB -Stick versteckt hatte, und der ihn an sich brachte; jemand, der sie aus dem Weg räumte, bevor sie zu einem Risiko wurde. Kurzum, jemand, der sich in Schwäbisch Hall auskannte.
Das alles hatte er natürlich auch dem Leiter der Ermittlungen am Telefon mitgeteilt, aber der hatte ihn erst abgewimmelt und dann abgewürgt. Auch dass der Finger vor einem Revier in Schwäbisch Hall aus einem fahrenden Auto geworfen worden war (also, nicht der Finger sich, sondern eine mit Klebestreifen umwickelte Zigarrenschachtel, in der sich der Finger befunden hatte), war als nebensächlich eingeordnet worden.
Das BKA hielt Rani Chopra für einen absoluten Nebenschauplatz. Man konzentrierte sich auf Berlin als Ausgangspunkt. Die Entführer hätten zwar in Schwäbisch Hall zugeschlagen, so sagte man Seifferheld, aber ihr Hauptquartier sei zweifelsohne in einer Großstadt, wo sie unbeobachtet agieren konnten.
Seifferheld lag im Bett und grummelte frustriert.
»Mein Brummbär«, raunte eine melodische Frauenstimme an seiner Seite.
MaC lag in seinen Armen. »Ich kann heute Nacht nicht allein sein«, hatte sie gesagt. Und das, obwohl sie das Video gar nicht in voller Länge gesehen hatte, so wie er, sondern nur den Teil der Aufnahme, der zur Veröffentlichung freigegeben worden war – nicht viel mehr als ein Standbild vom Kopf des Kulturattachés, bevor er erschossen wurde.
Ehrlich gesagt war Seifferheld froh über MaCs Anwesenheit, ganz ohne Hintergedanken, denn auch er wollte nicht allein sein.
Die Sinnlosigkeit der Gewalt machte ihn hin und wieder immer noch sprachlos. Selbst nach dreißig Jahren bei der Mordkommission.
»Wenn seine Familie gezahlt hätte, wäre er jetzt noch am Leben«, flüsterte MaC.
»Oder diese Schweine hätten ihn so oder so erschossen und wären dafür auch noch um fünf Millionen Dollar reicher«, hielt Seifferheld dagegen.
MaC kuschelte sich tief in seine Armbeuge. »Du hast wahrscheinlich recht. Solche Überlegungen sind leider müßig.«
Im Haus war es ruhig. Karina und Fela junior übernachteten bei Papa Fela, und Irmgard war schon früh schlafen gegangen. Glaubte Seifferheld, aber in Wirklichkeit saß sie mit verschränkten Armen und zerfurchter Stirn vor ihrem Laptop und wartete darauf, dass ihr Mann sich aus Afrika meldete.
MaC und Seifferheld lagen noch lange wach und sahen durch das offene Schlafzimmerfenster auf den Mond.
Irgendwann erhob sich Onis, der auf dem Bettvorleger gelegen hatte, gähnte, streckte sich und trabte dann nach unten.
Er kam lange, sehr lange nicht wieder.
Wenn man schon etwas Verbotenes tut, sollte man es wenigstens genießen.
Es war brechend voll. Schwitzende Leiber, die sich auf der Tanzfläche wild verrenkten. Fast schon erotisches Stöhnen mischte sich mit heiseren Jazzklängen. Die Luft kochte. Beine stampften. Hände
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