Finger weg Herr Doktor!
Patienten in die gefügige Stimmung erschrockener Dankbarkeit zu versetzen. Er hatte ausgesehen wie die Kreuzung zwischen einem Warenhaus und einer pompösen Kapelle; jetzt aber stand er, wie so viele viktorianische Absonderlichkeiten Londons, nicht mehr da. Die Säle, die Sir Lancelot einst majestätisch durchschritten hatte, waren - unglaublich, aber wahr - verschwunden. Ebenso der Operationssaal, in dem er so viele blutige Schlachten gewonnen, manche auch verloren hatte. Sogar der armselige, schlecht beleuchtete Vorlesungssaal, wo er die Feinheiten der Chirurgie in die Schädel zahlloser Studenten hineingehämmert hatte, war unbarmherzig zu einem Haufen Schutt zermalmt worden. Jetzt erinnerte nichts mehr daran; nur ein Loch im Erdboden, ein Bulldozer, der Schlammassen aushob, und ein halbes Dutzend Männer mit weißen Helmen, die Tee tranken.
Sir Lancelot wollte sich eben von dem quälenden Anblick abwenden, als sein Blick auf einen Gegenstand fiel, der inmitten der Ziegeltrümmer zu seinen Füßen im Morgensonnenschein lag. Er hob ein rostiges Skalpell auf - die altmodische Type mit fixer Klinge, das chirurgische Gegenstück zum Rasiermesser des Meuchelmörders. Gedankenvoll strich er sich den Bart. »Das muß wohl jenes sein, das ich im Jahre 1939 meiner Operationsschwester bei der Nierenoperation nachgeworfen habe. Hab’ mich oft gefragt, was aus ihm geworden sein mag.«
Er steckte die Reliquie in die Brusttasche seiner Tweedjacke, kehrte der Vergangenheit den Rücken und wandte sich leichten Fußes dem neuen chirurgischen Trakt zu, der sich an der Stelle der ehemaligen Küchen und der Leichenhalle erhob. »Sieht aus wie ein Supermarkt«, knurrte er angesichts des Turmes aus Beton und Spiegelglas. »Komisch, daß man in den nächsten hundert Jahren auch das als Dorn im Auge empfinden wird. Obwohl vielleicht ein medizinischer Supermarkt haargenau das Richtige wäre«, überlegte er. »Man schiebt seinen kleinen Rollwagen von einem Arzt zum anderen und beschwert sich fürchterlich, wenn der letzte Schrei an Therapie noch nicht im Sortiment ist. Wie anders war das doch, als ich jung war; man mußte den Leuten nicht erzählen, was ihnen fehlte, sondern nur, was für sie gut war. Wagte es einer, irgendwelche Fragen zu stellen, wurde er mit einem Floh im Ohr weggeschickt.« Als er durch die automatische Schiebetür trat, schnupperte er: »Kein Geruch. Gar keiner. Ich mochte den alten Gestank nach gedünstetem Kohl und Desinfektionsmitteln. Das gab dem Ort Atmosphäre.« Er nahm den funkelnden Ärztelift zum obersten Stockwerk, zur chirurgischen Station. Er wollte die Schwester besuchen, die in der Männerabteilung Dienst gemacht und es irgendwie fertiggebracht hatte, zwanzig Jahre lang seine Überempfindlichkeit ohne hysterischen Anfall zu ertragen. Sie und Harry, der Portier, der für ihn Wetten gesetzt und ihm während derselben zwanzig Jahre reichlich unzuverlässige Turfinformationen verschafft hatte, waren für ihn die einzigen Personen, die ihn interessierten.
Stirnrunzelnd ging er den kurzen, mit Kunststoff ausgelegten Gang entlang. Die modernen Krankenzimmer versetzten ihm einen Schock: die kleinen Räume vermochten kaum die chirurgischen Höflinge zu fassen, mit denen er sich so gern umgab. Sie waren mit der allerneuesten elektronischen Ausrüstung versehen, von der er ebensowenig verstand wie von den neuesten Popgesängen.
»Das ist ja Sir Lancelot!«
Schwester Virtue flatterte in ihrer modernisierten Uniform auf ihn zu. Es fiel ihm auf, daß er zum erstenmal im Leben die Mitte ihrer Waden sah.
»Meine liebe Schwester!« Er musterte sie aufmerksam. »Sie tragen Make-up? Im Dienst?«
»Aber ja. Das ist jetzt erlaubt. Von der neuen Oberschwester, Sie wissen ja. Mit Maß, versteht sich.«
Er strich sich den Bart. Erstaunlich, dachte er, eigentlich sieht sie gar nicht mehr wie eine alte Hexe aus. »Hier scheint sich viel zu ändern.«
Sie klatschte in die Hände. »Alles. Der Dean, der Professor, der ganze medizinische Stab wollen uns jetzt up to date sehen. Unsere ganze Ausrüstung ist aus Kunststoff: Spritzen, Leibschüsseln, Masken und Mäntel. Manchmal habe ich direkt Sehnsucht nach diesen süßen alten abgeschlagenen Emailschüsseln und den soliden Porzellanflaschen.«
Sir Lancelot musterte das Schildchen auf ihrer Tracht. »In all den Jahren haben Sie mir nie gesagt, daß Sie Esmeralda heißen.«
»Wirklich nicht?« Sie errötete und blickte zu Boden.
»Schade, Ihr Name gefällt mir.«
»Oh,
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