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Finish - Roman

Finish - Roman

Titel: Finish - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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eine halbe Stunde, ehe er den Steward bat, sie zu wecken. Ein paar Minuten später war der Steward wieder zurück.
    »Miss Carr ist fort, Sir.«
    »Fort?«
    »Ja, Sir. Sie ist heute Morgen per Boot von einem Gentleman abgeholt worden. So gegen sieben, soweit ich weiß.«
    George Grimthorp mochte kaum glauben, dass der Mann, der vor ihm auf dem regengepeitschten Kai in Liverpool stand, der Buck Miller war, von dem Moriarty ihm geschrieben hatte. Dieser aufgedunsene, käsegesichtige Kerl konnte unmöglich derjenige sein, der 100 Meter in Sollzeit lief!
    In Seehundsfelljacke und -hosen und mit einer Schirmmütze auf dem Kopf, die sein schrumpeliges braunes Gesicht noch kleiner aussehen ließ, stapfte der zwergenhafte Grimthorp durch die Menschenmenge auf dem Kai, um den Amerikaner zu begrüßen. Der Yankee hatte einen kräftigen Händedruck – wenigstens das –, doch seine Augen waren trüb und irgendwie abwesend. Grimthorp bemerkte seine dicklichen Hüften, die blasse Haut und das leichte Doppelkinn. Das süße Leben, dachte er grimmig. Immer das Gleiche. Es würde zweifellos mehr als ein paar Wochen brauchen, ehe er dem Yankee die Spuren seiner Ausschweifungen abtrainiert hatte.
    Für Buck war die Reise nach Norfolk ein einziger Albtraum. Er hatte einen Kloß im Magen, und das flaue Gefühl wollte ihn auch die ganzen endlosen Meilen, die er Grimthorp im klappernden Zug nach Norwich gegenübersaß, nicht verlassen. Nach der berauschenden Zweisamkeit auf der S.S. Harold saß er plötzlich mit einem runzeligen, verbiesterten Fremden zusammen und starrte in eine platte, graupelgepeitschte Februarlandschaft hinaus. Wo war Hettie? Wo war sie geblieben? Die gesamte Zugreise und auch die elend langen Meilen mit Pferd und Wagen zum Fen Inn hallte diese Frage durch seinen Kopf.
    Wie ein einzelner, verwitterter Grabstein stand die Herberge in der trostlosen Norfolker Weite. Es war ein graues, zweistöckiges Gebäude, das an einer schlammigen, ausgefahrenen Straße lag. Das Kneipenschild quietschte im Wind, der über die Moore blies. Das war also der gottverlassene Flecken, an dem er trainieren sollte, dachte Buck, als er aus dem Wagen stieg. Kalt wie der Nordpol und einsam wie ein Leuchtturm.
    An der Tür wurden sie von einem großen, stämmigen jungen Kerl mit freundlichem Gesicht und Kartoffelnase begrüßt. Er hieß Sean Casey und war ein Boxer, der bei Grimthorp im Training war. Irgendwie hatte Sean für den niedergedrückten Buck etwas Tröstliches.
    Beim Eintreten fragte sich Buck, wer um alles in der Welt in solch einer trostlosen, finsteren Bruchbude nach Geselligkeit suchen würde. In dem niedrigen Schankraum gab es nicht mehr als einen Tresen und ein paar grob gezimmerte Bänke. Weder einen Hauch Farbe, einen Spucknapf noch eine Tänzerin. Sein Zimmer im oberen Stock war nicht besser. Eine Bretterliege mit Heumatratze, eine Kommode und eine Waschschüssel – das war alles. Heim, süßes Heim!, dachte Buck – bis April.
    Grimthorp trug seinen Namen zu Recht. Er war ein Bergmann aus Lancashire und hatte eine harte Schule durchlaufen, denn er war in einer Welt groß geworden, in der man auf alles wettete, was sich bewegte. In den 40er Jahren war er Halbmeilen- und Meilenläufer gewesen und hatte fünf Zehntelsekunden hinter dem großen George Reed gelegen, der als erster Mann der Welt die halbe Meile in zwei Minuten gelaufen war. 1858 hatte er als erster Läufer eine Meile unter viereinhalb Minuten geschafft: 4:29,5 war er auf der Mautstraße in Newmarket gelaufen. Er hatte beim unnachgiebigsten Schüler der Barcklay School trainiert, dem bekannten George Hall aus Formby. Training, so Hall, stählte den Mann, härtete ihn ab, reinigte ihn. Wenn es nach der Trainingszeit endlich zum Wettkampf kam, war das eine Erleichterung.
    Zerknirscht musste Buck daran denken, dass Moriarty womöglich eine schottische Redewendung seines Vaters zitiert und gesagt hätte, Grimthorp »bereitete das Lächeln Mühe«, denn genau das empfand er in den ersten quälenden zwei Wochen in Fen Inn. Zweimal täglich absolvierte er seine »Schwitzkur«, rannte sieben Meilen in einem schweren Mantel und legte sich anschließend stundenlangschwitzend unter ein dickes Federbett. Einmal am Tag nahm er Grimthorps Version von Black Jack ein, die so schnell wirkte, dass er es kaum bis zur Zimmertür schaffte. Selbst sein Schlaf wurde überwacht, und im Hinblick auf unerwünschten »Handbetrieb« hatte Grimthorp ihm hinten ans Nachthemd eine Garnspule

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