Finish - Roman
Bahnen.
Dann erschien plötzlich Hettie Carr. Buck würde sich nie mehr daran erinnern können, was sie sang – irgendwas über eine Frau namens Mold und einen Garten –, doch das war völlig gleichgültig. Die kesse, blonde, 1,60 große Hettie Carr erfüllte den Raum. Sie hatte eine kräftige, melodiöse Stimme und war zweifellos vom Fach. Buck konnte seinen Blick einfach nicht von ihrer milchweißen Haut losreißen, deren Makellosigkeit einzig von einem Leberfleck dicht über ihrer Oberlippe beeinträchtigt wurde. Nein, nicht beeinträchtigt, dachte Buck, er unterstrich sie vielmehr und lenkte die Aufmerksamkeit auf ihre vollen Lippen. Erst nach drei Zugaben entließ das begeisterte Publikum sie von der Bühne. Buck war hingerissen.
Denn Hettie, deren leuchtend blaue Augen zu funkeln begannen, wenn ihre höchsten Töne den Raum erfüllten, war so sinnlich und schön, dass einem das Wasser im Munde zusammenlief.
Als sie von der Bühne stieg und sich zwischen den Tischen hindurch zu ihrem Platz schlängelte, kam sie an Bucks Tisch vorbei. Der Leberfleck war noch schöner, als er gedacht hatte, ein herrlicher, ein überirdischer Leberfleck. Hettie warf ihm im Vorbeigehen einen Blick zu und lächelte. Als Kapitän Clare kurz darauf fragte, ob noch jemand auftreten wolle, schnellte Bucks Hand instinktiv in die Höhe, obgleich er keine Ahnung hatte, was er eigentlich darbieten sollte.
Wie im Traum ging er zwischen den Tischen hindurch zur Bühne. Er hörte kaum, wie der Kapitän ihn als »den jungen amerikanischen Läufer, der es in England mit den besten englischen Amateuren aufnehmen will« ankündigte, und nahm auch das Schwanken und Knarren des Schiffes nicht mehr wahr.
Buck starrte stumm hinunter ins Publikum, als der Kapitän ihn noch einmal fragte, was er den versammelten Gästen darbieten wolle. Ohne nachzudenken haspelte er »Richard III.«, und mit erhobenen Händen bat der Kapitän um Ruhe. Buck hatte die Rolle nie gespielt, doch wie oft hatte er Moriarty darin gesehen, und wie oft hatten er und Billy Joe hinter seinem Rücken den Eröffnungsmonolog parodiert.
»Nun ward der Winter unsers Missvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks«, hob er an. Die Worte strömten aus ihm heraus, doch diesmal frei von jeder Ironie. Shakespeares Verse waren tief in Buck eingedrungen, hatten ihn berührt und klangen nun neu und frisch aus seinem Mund.
Unversehens ging er völlig in der Rolle auf und griff nach dem tropfenden Messingkerzenständer, der auf dem Flügel stand. Er humpelte zurück zur Bühnenmitte, wie er es sooft bei Moriarty gesehen hatte, und die flackernde Kerze malte verzerrte Schatten auf sein Gesicht. Buck spielte maßlos übertrieben und hinkte mit glühender Inbrunst auf der knarrenden Bühne hin und her. Doch das Publikum war wie verzaubert. Als er geendet hatte, brandete spontaner Beifall auf. Buck wurde rot, nickte dankend und stieg von der Bühne herunter.
Er ging an seinem Tisch vorbei auf Hettie zu. Zum Glück war an ihrem Tisch ein freier Platz, und er setzte sich neben sie, während der Proviantmeister auf dem Klavier ein Potpourri bekannter Balladen anstimmte.
»Sie sind vielleicht ein seltsamer Sportler, Mr. Miller«, sagte sie mit ihrer weichen, tiefen, schottisch eingefärbten Stimme.
Buck war wie beschwipst von seinem Bühnenerfolg. »Ich bin Profi«, sagte er.
»Auf der Bühne?«
»Theater des Westens«, erwiderte Buck, und seine Wangen glühten noch immer vom Applaus.
»Wirklich!«, sagte sie.
Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, er erzählte von Moriarty und Eleanor, von ihren Reisen durch den Westen, von seinen Lauferfolgen, wobei er Billy Joe möglichst wenig erwähnte und Mandy vorsichtshalber gänzlich aussparte.
»Mein Vater hatte für Läufer nichts übrig«, sagte seine Zuhörerin. »Er hat ’ne Menge Kleingeld an diese Gauner verloren, zumindest hat er mir das immer gesagt. Wette nie auf etwas, das zwei Beine hat, pflegte er zu sagen.«
So ein Läufer sei er nicht, beteuerte Buck, niemals würde er redliche Leute um ihr sauer verdientes Geld prellen. Nein, er sei eine ehrliche Haut, ein Mann, der stets nach bestem Können lief. Auch reiste er nicht nach England, um gegen die Crème de la Crème der dortigen Amateurläufer ohne Vorgabe anzutreten. Hettie Carr schien beruhigt und beeindruckt.
Kapitän Clare kündigte an, als nächstes würde der Schiffsarzt Wagner auf der Maultrommel spielen.
Buck warf alle Zurückhaltung über Bord. Sanft
Weitere Kostenlose Bücher