Finish - Roman
ergriff er Hetties Arm, zog sie vom Stuhl und verließ mit ihr den Speisesaal.
Sie gingen an Deck, lehnten sich ein Weilchen gegen die Reling, blickten übers dunkle Meer und ließen sich die feine Gischt ins Gesicht sprühen.
Später konnte Buck den genauen Zeitpunkt benennen, an dem sein Bordtraining für die Englischen Amateurwettkämpfe endete. Es war am 10. Januar 1877 um Punkt neun Uhr abends, als Hettie Carr auf dem Deck des wogenden Schiffes plötzlich das Gleichgewicht verlor und gegen ihn taumelte, und er sie um die Taille fasste. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn. Ihr Mund schmeckte nach Himbeeren. Es hätte nicht viel gefehlt, und Buck wäre in Ohnmacht gefallen. Es hatte ihn erwischt, und an jenem Abend lag er in seiner Kabine, starrte an die Decke und konnte an nichts anderes denken als an Hettie Carr.
Die gesamte folgende Woche über verbrachten Buck und Hettie jede wache Minute miteinander, schlenderten durch die peitschende Gischt und den heulenden Atlantikwind über die Decks der S.S. Harold und plauderten über alles und nichts. Hettie kam aus Glasgow und war 1873 von ihrem Vater, einem bekannten Komiker, nach Amerika gebracht worden. Seitdem tingelte sie als die »schottische Jenny Lind« durch den Westen. Sie war enorm erfolgreich gewesen, doch im September 1876 war ihr Vater auf dem Weg nach Virginia City an Cholera erkrankt und eine Woche später gestorben. Jetzt war sie auf ihrem Weg zurück nach London, um als Zwischennummer am Empire in Golders Green aufzutreten.
Fasziniert lauschte Buck Hetties Geschichten von ihrer Kindheit in den trostlosen, rattenverseuchten Elendsviertelnvon Glasgow und von ihren Abenteuern mit ihrem Vater in den wüsten Kuhkäffern des Westens. Aber er hätte ihr genauso gebannt zugehört, hätte sie das Alphabet aufgesagt. Denn Buck Miller hatte den Kopf verloren, und alle Gedanken an Billy Joe und seinen vernichtenden Sieg über die englischen Lords hatten sich in der süßen Entrücktheit verflüchtigt, die ihn wie ein betörender Hauch umgab.
Jeden Abend saßen sie, von eilfertigen Stewards umschwirrt, im schummrigen, schaukelnden Licht des Speisesaals beieinander und aßen sich durch die Speisekarte, und Moriartys Trainingsspeiseplan ging in Strömen gekühlten Moselweins unter. Nach und nach ließ Buck Millers sportliche Spannkraft nach.
Hettie war für Buck unantastbar, eine Göttin, und seine fleischlichen Gelüste waren wie eingefroren, wie betäubt. Selbst nach dem Abendessen gelegentlich ihre Hand zu halten war ein Privileg, und niemals wäre er weiter gegangen, als sich von Hettie zum Essen einladen zu lassen.
Es war merkwürdig. Buck hatte viele Frauen gekannt, die sich allesamt in zwei Kategorien unterteilen ließen. Da waren zum einen die hart schuftenden Frauen des Westens, eifrig, aber phantasielos und meist ziemlich unerfahren. Auf der anderen Seite waren die »Zarten«, die man sich aus lauter Not für ein paar Dollar in irgendeinem Siedlerkaff kaufte. Diese Damen waren zwar feurig und einfallsreich gewesen, doch bei zehn Nummern am Tag war an wahre Hingabe und Zärtlichkeit nicht zu denken. Und so konnte Buck sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihn bei Hettie Carr erwartete. Was am Abend des 20. Januar 1877 geschah, traf Buck wie ein Schock, denn bis dahin hatten sie ihre gemeinsamen Tage mit einem flüchtigen Kuss vor Hetties Kabinentür beschlossen. Dann hatte Buck jede Nacht auf seinem Bett gelegen und überlegt, welche Worte es noch für »küssen« gab, hatte er doch bisher noch nie einen Kuss als solchen genossen, sondern nur als Auftakt des unvermeidlichen Geschlechtsaktes hingenommen.
»Knutschen« klang zu widerlich, »züngeln« zu kalt, »schmatzen« zu nass und »sich verzehren« zu feurig. Schließlich entschied er sich für »verschmelzen«, denn das kam dem hinreißenden Gefühl, das er bei der Berührung mit Hetties weichen, geöffneten Lippen empfand, am nächsten.
Nach jenem Abend des 20. Januar waren jedoch alle Gedanken an »knutschen«, »züngeln« und sogar »verschmelzen« hinfällig, denn um Punkt 22.30 Uhr hatte Hettie Carr ihn sanft in ihre Kabine gezogen.
In den darauffolgenden Jahren konnte sich Buck an jeden einzelnen Moment jener Nacht erinnern. In der Dunkelheit von Hatties Kabine, in die nur ab und zu ein Mondstrahl durch die schwankende Kajütenluke fiel, nahm er zunächst nur die Berührung suchender, zarter Hände und Hetties leisen, schottischen
Weitere Kostenlose Bücher