Finish - Roman
ihm klar, dass dies hier nicht Alice Clay war und er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie man sich einer solchen Frau näherte.
Eleanor schaute von ihrem Text auf.
»Ich bin so weit«, sagte sie und erhob sich.
»Für eine komplette Probe? Ohne Text?«
»Ja.«
Sie schoben die Stühle beiseite, um Platz zu haben. Schon bald waren sie ganz bei der Sache, bis zu der Stelle, an der Moriarty rief:
»Das nenn’ ich eine Frau! Küss’ mich, mein Mädchen!« Noch während er die Worte sprach, erstarrte Moriarty und brachte es einfach nicht fertig, seine Partnerin zu berühren.
Ehe er sich’s versah, spürte er ihre zarten, weichen Lippen, und ihre Arme zogen ihn an sich. Er versuchte, sich freizumachen, doch sie hielt ihn fest. Moriarty wurde schwindelig. Schließlich gab sie ihn frei, und er löste sich keuchend aus ihrer Umarmung.
»Gut gemacht, Moriarty«, lachte sie. Später fiel ihm auf, dass sie zum ersten Mal die Anrede »Mister« weggelassen hatte.
Als es bei der Aufführung eine Stunde später zur Kussszene kam, beschloss Moriarty, jegliche Zurückhaltung über Bord zu werfen und alles zu wagen. Er küsste Eleanor zärtlich und leidenschaftlich, als wäre das Publikum gar nicht da. Eleanor erwiderte den Kuss sofort und mit hungriger Zunge.
Er spürte, wie sie ihn an sich drückte, der leichte, flatternde Druck ihrer Hände in seinem Nacken. Moriarty hielt den Kuss so lange es ging, wenn auch kürzer als gewollt, und sie wehrte sich nicht. Unter stürmischem Applausriss er Eleanor von sich los, und sein Herz raste wie nach den Wettläufen seiner Jugend, wenn auch aus denkbar anderem Grund.
Der Abend war ein voller Erfolg gewesen. Nach der Aufführung war Moriarty der Mittelpunkt der Party und unterhielt seine Gastgeber mit Geschichten aus Amerika, dem Wilden Westen und seinen Plänen für die Zukunft. Mary, Edwin und auch Lady Grafton hatten den wahren Beweggrund für Moriartys und Eleanors Schlussumarmung sofort durchschaut, doch der ahnungslose Lord war wild entschlossen, seinen Gästen die Zeit nicht lang werden zu lassen: Für den Samstagmorgen war ein Ritt durch die wunderschöne kumbrische Landschaft geplant, und am Nachmittag stand – welch ein Zufall – ein Besuch beim Ambleforter Sportfest an.
Schon seit Jahrhunderten wurden die Ambleforter Spiele auf dem idyllisch zwischen den Bergen Black Tor und Combe gelegenen Dorfanger abgehalten. Es war in erster Linie ein lokales Vergnügen, doch einige der Ringer und Bergläufer kamen, angelockt von Preisgeldern, die drei Monatsgehältern eines Landarbeiters entsprachen, sogar aus Carlisle oder von der schottischen Grenze.
Die Wettkämpfe waren nichts anderes als eine englische Version der Highland-Turniere ohne die Wurfdisziplinen. Mit den Spikes der Londoner Spitzenläufer hatten diese zähen Kerle aus Cumberland und dem Westmoreland nichts am Hut, viele liefen und sprangen sogar barfuss. Die massigen Ringer hingegen trugen bunt dekorierte Kostüme, und es gab sogar einen Preis für den bestgekleideten Teilnehmer.
Den ganzen Nachmittag über saß der Earl mitsamt Familie und Gästen im Schatten einer eigens aus Leinwand und Holz gezimmerten Tribüne. In einem Zelt daneben servierten ihre Bediensteten eiskalten Champagner und Horsd’œuvres. Moriarty sah sich die Einheimischen in derArena an – drahtig und mager, mit schmalen, zerfurchten Gesichtern – und dachte daran, dass dies die beiden »Völker« waren, denen er und sein Vater 1848 den Rücken gekehrt hatten. Zufällig hatte er nun einen Fuß in beiden Welten und musste zugeben, dass seine wahre Leidenschaft den Sportlern galt, die sich für ein paar Shilling die Seele aus dem Leib rannten.
Graftons Vorschlag, er sollte doch bei einem der Rennen mitlaufen, war aus heiterem Himmel gekommen. Booth hatte erwähnt, dass Moriarty ein erfolgreicher Läufer gewesen war, und der Earl war sofort darauf angesprungen.
»Das Bergrennen!«, hatte er gesagt. »Der letzte Wettkampf der Spiele!«
Moriarty hatte höflich abgelehnt und angeführt, seine ärztlichen Berater hätten ihm vom Laufsport abgeraten. Doch gutmütig polternd hatte Grafton keine Widerrede geduldet. Noch immer zögernd, hatte Moriarty Eleanors Blick erhascht, die hinter ihrem Vater stand: Es war sonnenklar, was sie sich wünschte. Er war verloren.
Eine Stunde später stand Moriarty mit 27 anderen Männern am Start und blinzelte zum Black Tor empor, der gut 300 Meter hoch vor ihm aufragte. Auf seinem Gipfel befand sich ein
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