Finkenmoor
stockend. Ivo wagte nicht, sich zu bewegen. Obwohl ihm kalt war, begann er schlagartig zu schwitzen. Er leuchtete mit seinem Ziffernblatt, versuchte die Richtung auszumachen, aus der die Musik kam.
Da brach sie ab. Abrupt.
Die Stille, die nun folgte, empfand Ivo als unerträglich. Er wagte kaum, sich zu bewegen. Seine Augen kreisten, versuchten jeden Winkel des Hauses zu erfassen. Sollte er sich bemerkbar machen? War es besser, sich ruhig zu verhalten?
Da wieder. Lalelu … ungleichmäßig, abgehackt.
Ivo hielt sich die Ohren zu, begann hektisch zu atmen. Blanke Panik griff nach ihm. Er wollte nach Hause. Raus aus dieser düsteren, stinkenden Hütte, weg von der gespenstigen Melodie. Zu seiner Oma, seine Mama anrufen, zu Hause auf dem Sofa liegen und mit seiner Playstation spielen. Tränen überfielen ihn mit Heftigkeit. Sein Körper bebte. Zwischendurch hielt er inne, lauschte. Die Musik spielte und spielte, hörte einfach nicht auf. Lalelulalelu … stoßweise.
Ivo arbeitete sich zur Tür, riss sie auf. Eisiger Wind drängte ins Haus, wehte Regen auf den Holzfußboden im Eingang.
Wenige Meter entfernt stand sein Handbike. Es war nutzlos, aber vielleicht konnte er über den matschigen Boden zum nächsten Haus kriechen. Zwei Kilometer, weiter schätzte er die Entfernung nicht. Das konnte er schaffen, alles war besser, als hier zu bleiben.
Da verstummte die Melodie wieder.
Zugleich steigerte sich der Regen zur Sintflut und peitschte, getragen vom Wind, ins Haus. Ivo rollte ein Stück zurück und warf die Tür ins Schloss. Er musste sich gedulden, warten, bis der Wolkenbruch nachließ, wenigstens ein paar Minuten.
»Lieber Gott, hilf mir«, murmelte Ivo.
Cuxhaven-Duhnen, Christian-Brütt-Weg
Als Iska aufwachte, umgab sie völlige Dunkelheit. Ihr Nachmittagsschläfchen war ziemlich ausgeartet und Moses mit seiner Geduld am Ende. Der Westi lief aufgeregt umher. Iska wunderte sich, so etwas passierte ihr selten. Vor allem nicht, wenn sie Ivo zum Abendessen erwartete und es Spaghetti Bolognese gab. Gähnend erhob sie sich vom Sofa und schlurfte in die Küche. Schwanzwedelnd folgte Moses und lief zu seinem Napf. Iska machte Licht und öffnete anschließend eine Dose Kalbsleber. Der Hund stürzte sich darauf, als habe er tagelang nichts zu fressen bekommen.
Mit Blick auf die Uhr begann Iska Zwiebeln zu schneiden, kochte Tomaten, zog ihnen die Schale ab und briet Hackfleisch an. Um halb sieben deckte sie den Tisch im Esszimmer und holte zwei Flaschen Zitronenlimonade aus dem Keller.
Als von dem Jungen auch um kurz vor sieben noch nichts zu sehen war, wählte sie seine Handynummer, bekam ein Freizeichen, aber er nahm das Gespräch nicht an. Iska wiederholte die Anrufe minütlich und fluchte. Dieser Junge! Wahrscheinlich hatte er sein Handy mal wieder irgendwo liegen gelassen.
Als Ivo eine Stunde überfällig war, ging sie in die Küche, stellte den Topf mit der Soße vom Herd und zog ihre Jacke über. Im strömenden Regen fuhr Iska die wenigen Kilometer zum Haus ihrer Tochter, machte Licht, stolperte trotzdem über Ivos Schulranzen im Hausflur und sah sein Handy auf dem Küchentisch liegen.
Mit klopfendem Herzen wählte sie die Nummer seiner Mutter. Erfolglos. Daraufhin drückte Iska die Festnetznummer ihres Arbeitgebers. Ebenfalls vergebens. Sie zog ihren nassen Mantel aus und telefonierte jetzt die Liste mit Ivos Freunden ab, die für Notfälle gut sichtbar an der Kühlschranktür hing. Das Ergebnis war niederschmetternd und verstärkte ihre Unruhe. Niemand hatte Ivo gesehen, auch nicht sein bester Freund, mit dem er sonst ständig zusammenhockte.
Iska verlor keine weitere Minute, wählte die Nummer der Polizei in Cuxhaven und meldete ihren Enkel als vermisst. Der Beamte am anderen Ende der Leitung nahm die Sache sofort ernst, und das nicht nur, weil Ivo im Rollstuhl saß.
Ein kleines Mädchen wurde vermisst.
Iska wusste Bescheid. Phyllis hatte sie deswegen völlig aufgelöst angerufen. Iska versuchte, nicht zu weinen, als der Polizeibeamte erklärte, dass er eine Großfahndung nach dem Jungen einleiten würde. Fix und fertig rief sie noch einmal auf der Arbeitsstelle ihrer Tochter an und erfuhr, dass sie sich auf dem Heimweg befand. Etwas beruhigter entschied Iska, ihre Schwester vorerst nicht zu informieren. Phyllis regte sich immer gleich schrecklich auf, außerdem nahm sie die Sache mit dem verschwundenen Mädchen sehr mit. Die ganze Region bangte um das Leben der Kleinen.
Als Ivos Mutter endlich
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