Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
Augen an, nur Tom und Lucy schienen sich aus irgendeinem Grunde ein wenig unwohl zu fühlen.
Tapfer berichtete Finn weiter – von seiner Kindheit im Waisenhaus und davon, wie vor kurzem Heinz und Lydia Schmidt aufgetaucht waren und so getan hatten, als mochten sie ihn und wollten ihn adoptieren.
„Und dann belauschte ich sie und hörte, dass sie mich zurückgeben wollten. Heinz sagte, es sei von Anfang an klar gewesen, dass sie mich nicht behalten wollten, und dass sie mich nur so lange bei sich haben wollten, bis sie irgendetwas bekommen hätten. Ich weiß aber nicht, was es war, und ich bin dann einfach ganz schnell davon gerannt.“
Erschöpft hielt er in seiner Erzählung inne.
Tom runzelte die Stirn.
„Schade, dass du nicht herausgefunden hast, was sie von dir wollten“, meinte er nachdenklich.
„Ich habe nicht nachgedacht“, gestand Finn traurig. „Ich wollte einfach nur weg von diesen Verrätern.“
Tom nickte.
„Hätte ich genauso gemacht“, sagte er. „Allerdings denke ich, dass wir es trotzdem noch herausfinden sollten. Ich glaube nämlich, dass das, was sie haben wollen, mit unserer Familie zusammen hängt.“
„Unserer Familie?“
Finn stockte der Atem.
„Glaubst du, wir sind wirklich Zwillinge?“
„Ich glaube, das sind wir!“, bestätigte Tom. „Ich wurde nämlich auch in einer eiskalten Winternacht, ebenfalls vor neun Jahren, auf einer Kirchentreppe abgelegt, allerdings hier in Hohenstadt. Auch ich war in eine alte Decke eingewickelt. Und auch bei mir war ein Zettel, auf dem mein Name stand. Aber etwas an der Geschichte ist merkwürdig!“
„Was denn?“
Finn kam es schon ausreichend merkwürdig vor, dass er einen Zwillingsbruder haben sollte. Nach all den Jahren, in denen seine einzige Familie Fräulein Winter, die alte Kaja und die Kinder im Waisenhaus gewesen waren, gab es nun vermutlich jemanden, der wirklich mit ihm verwandt war. War das nicht eigenartig genug?
„Nun ja, die Sache ist die…“
Tom stockte und sah hilfesuchend zu Lucy hinüber.
Die warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. Dann platzte sie plötzlich heraus: „Auf dem Zettel, den man bei ihm fand, stand auch, dass sein Name Finn sei!“
Eine Weile herrschte tiefes Schweigen. Dann drangen plötzlich die Alltagsgeräusche an Finns Ohren. Eine Fliege, die laut brummend einen Weg aus der Küche suchte, das Atmen der anderen Kinder, die Geräusche einer weit entfernten Straße.
Finn schüttelte den Kopf, wie, um ihn freizubekommen.
„Wieso hat man dir einen anderen Namen gegeben?“, fragte er interessiert.
„Ich bin bei Menschen aufgewachsen, bei denen es mir nicht gefiel“, antwortete Tom verschlossen. „Also bin ich irgendwann weg gelaufen. Den Namen habe ich selbst geändert, damit ich nicht so leicht zu finden bin.“
Finn nickte.
„Was meinst du, warum auf beiden Zetteln der gleiche Name stand?“, fragte er interessiert.
„Vielleicht wussten unsere Eltern nicht, wer von uns wer war?“, grinste Tom. Finn grinste zurück.
„Oder sie waren so arm, dass sie sich nur einen Namen für uns beide leisten konnten?“, mutmaßte er. Tom brach in lautes Lachen aus.
„Vielleicht fanden sie es unnötig, sich zwei verschiedene Namen für euch auszudenken, wenn sie euch sowieso aussetzen wollten“, kicherte der große braunhaarige Junge.
„Oder sie fanden ‚Finn‘ so schön, dass es für beide reichte!“, prustete Lucy.
Und ehe sie sich’s versahen, kugelten die Kinder vor Lachen über den Boden und hielten sich die Bäuche.
Finn fühlte sich plötzlich mit jeder Faser seines Körpers glücklich. Nachdem gestern alle seine Träume zerstört worden waren und nachdem der heutige Tag so schrecklich angefangen hatte, sah es jetzt wirklich so aus, als hätte er seinen Bruder gefunden. Und als sei das noch nicht Glück genug, hatte er auch Freunde!
Finn war rundherum zufrieden.
Wie Finn schnell feststellte, schien jedes von den Kindern feste Aufgaben und außerdem einen festen Schlafplatz zu haben. Lucy, das einzige Mädchen, hatte sich einen Schlafplatz in der Küche gesucht, während Tom, der braunhaarige Rudolf, der kleine blonde Mark und der dicke Justus ihre Lager in einem anderen Raum aufgebaut hatten, den Rudolf großspurig als „unseren Salon“ bezeichnete. In Wirklichkeit sah der Salon genauso schäbig wie die ehemalige Küche aus, nur dass hier an den Wänden keine zersprungenen Kacheln klebten. Stattdessen hingen alte, vergilbte und größtenteils zerrissene
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