Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
Mädchen, im Gegensatz zu ihm, genau zu wissen schien, wohin sie laufen mussten. Inzwischen hatte sie die Führung übernommen und zog ihn durch die Gassen, mal nach rechts, mal nach links. Schließlich, als Finn schon nach Luft zu schnappen begann, zog sie ihn in einen kleinen unbefestigten und halb von Unkraut überwucherten Weg entlang, der bei einem großen, sehr verwilderten Garten endete. In diesem Garten stand ein kleines Haus. Das Haus schien alt zu sein, halb verfallen, ähnlich wie das Haus, in dessen Keller Finn eingesperrt gewesen war, nur dass hier niemand zu wohnen schien. Es gab keine Kinder, die einen anstarrten. Vor der Haustür, die schief in den Angeln hing, lag ein Haufen Gerümpel und altes Laub, die es einem unmöglich machen würden, das Gebäude zu betreten, und die Fensterscheiben waren mit Brettern zugenagelt.
Das Mädchen schien sich allerdings bestens auszukennen. Schwer atmend zog sie Finn um das Haus herum zu einer kleinen Seitentür, die ebenso zugenagelt aussah wie die Fenster. Als sie jedoch an den Brettern zog, öffnete sich die Tür mitsamt den Brettern nach außen. Das Mädchen zog Finn in das Haus hinein, einen dunklen Flur entlang und durch eine Türöffnung in einen Raum, der wohl mal eine Küche gewesen sein mochte, wie man an der Reihe größtenteils zerschlagener blau-weißer Kacheln noch erkennen konnte. Dann ließ sie sich erschöpft auf eine Decke fallen, die mitten auf dem Boden lag.
Etwas unsicher tat Finn es ihr nach.
Langsam beruhigte sich sein heftig schlagendes Herz und er begann sich zu fragen, wer das Mädchen eigentlich war und warum es ihn gerettet hatte.
„Entschuldige bitte, aber wie heißt du eigentlich?“, fragte er und betrachtete das Mädchen genauer. Sie lag ganz entspannt auf der Decke und hatte die Augen geschlossen; hunderte von Sommersprossen leuchteten auf ihrer weißen Haut und ihre roten Haare umgaben ihr Gesicht wie ein Heiligenschein. Obwohl die Kleine verwahrlost und dreckig aussah, erschien sie ihm mit einem Mal wunderschön.
Das Mädchen öffnete die Augen und sah ihn an. Irgendetwas schien sie zu belustigen, denn ihre Mundwinkel zuckten bei seinem Anblick. Dann richtete sie sich langsam auf.
„Lucy“, sagte sie, „ich heiße Lucy. Und ich bin wirklich sehr gespannt, wie du heißt!“
„Ich bin Finn!“, stellte er sich vor. Einen Moment schwiegen beide und betrachteten sich gegenseitig.
„Warum hast du mich gerettet?“, fragte Finn dann neugierig.
Jetzt lachte das Mädchen wirklich.
„Ich erkläre es dir nachher!“, sagte sie.
Eine Weile schwiegen beide. In der plötzlichen Stille begann Finns Magen auf einmal unüberhörbar zu knurren.
„Oh“, lachte Lucy, „und Essen gibt es auch nachher. Das hängt beides miteinander zusammen!“
Finn fand das eigenartig, aber es kam ihm unhöflich vor, weiter zu fragen, nachdem sie ihm doch das Leben gerettet hatte. Doch etwas anderes konnte er sicher erfahren.
„Und die böse… die Frau ist wirklich deine Mutter?“
Ein Schatten zog über Lucys fröhliches Gesicht, verschwand aber sofort wieder.
„Ja, das ist meine Mutter“, sagte sie, „und Annie, die Kleine, die mir Bescheid gesagt hat, dass du im Keller bist und Hilfe brauchst, ist die älteste meiner Schwestern. Zum Glück war ich gerade in der Nähe!“
„Bekommst du denn keinen Ärger, wenn du nachher nach Hause gehst?“, fragte Finn beklommen.
„Ich wohne nicht zu Hause“, erklärte Lucy trotzig. „Ich wohne hier. Zu mir ist sie nämlich auch nicht netter als zu dir. Hier habe ich meine Freiheit!“
„Gehst du denn gar nicht zur Schule?“, wollte Finn wissen.
„Ein paar mal hat mich der Inspektor erwischt und hat mich zurück zu meiner Mutter gebracht, und sie haben ihr gesagt, dass sie dafür sorgen soll, dass ich in die Schule gehe. Aber ich bin immer wieder abgehauen, und eigentlich ist es Mutter auch egal.“
Und als habe sie nun endgültig genug gesagt, legte Lucy sich wieder auf den Rücken und schloss die Augen.
Eine Weile lag Finn neben ihr betrachtete nachdenklich die Risse und Spinnenweben an der vergilbten Zimmerdecke. Wie es wohl sein mochte, so ganz alleine zu leben? Er selber hatte nie Eltern gehabt, aber doch immer ein Zuhause. Dieses Mädchen hier neben ihm hatte zwar sehr wohl eine Mutter, aber sie zog es vor, nicht zuhause zu leben. Ob sie wohl einen Vater hatte? Finn hätte sie gerne gefragt, aber er hatte das Gefühl, er sollte sie besser nicht stören. Also betrachtete er weiter
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