Finn und der Kristall der Zeit (German Edition)
Tapeten an einigen Wänden. An den meisten Ecken dagegen war das blanke Mauerwerk zu sehen.
Hätte nicht der Frühling bereits Einzug gehalten, wäre es in dem zugigen Mauern sicher bitterkalt gewesen. So aber wickelte man sich in alle möglichen Decken und ausgediente Kleidungsstücke, welche die Kinder von wer weiß wo herhatten, und machte es sich auf dem Boden so bequem wie möglich.
Finn fragte sich, wie es wohl im Winter gewesen war, so zu leben, aber sein Bruder meinte nur, da hätten sie natürlich geheizt, und Finn fragte nicht weiter.
Später entdeckte er in einem der kleineren Zimmer einen vermutlich noch funktionstüchtigen Kamin, und ihm wurde klar, dass die Kinder im Winter alle dort geschlafen haben mussten.
Nach langen Diskussionen entschloss man sich, dass Finn vorerst bleiben sollte, zumindest, bis man herausgefunden hatte, was genau es mit den Herrschaften Schmidt auf sich hatte, die so gemein versucht hatten, Finns Vertrauen zu erwecken und die ihn dann so hinterlistig im Stich gelassen hatten.
Zu diesem Zweck wollte eines der Kinder (nur eben nicht Tom oder Finn) zum Wirtshaus gehen und versuchen, die Schmidts zu belauschen oder wenigstens unter einem Vorwand zu sprechen.
Leider konnte sich Finn nicht im Geringsten mehr erinnern, wo das Wirtshaus war, aber zum Glück fiel Lucy ein, dass sie ja mit Finn zu dem Bonbonladen gehen konnte, wo sie ihn erstmals getroffen hatte. Von dort würde er das Wirtshaus sicher wieder finden.
„Was meintest du eigentlich damit, als du sagtest, ich sollte beim Bäcker sein?“, fragte Finn interessiert.
Lucy kicherte.
„Ich dachte natürlich, du wärst Tom. Und Tom sollte eigentlich gerade ganz woanders sein. Er war dran mit Brot abholen!“
Und sie berichtete, wie die Kinder von Zeit zu Zeit von mildtätigen Ladenbesitzern der Stadt etwas zu Essen bekamen, meistens ältere Ware, wie die Brote, welche die Kunden nicht mehr kauften, weil sie nicht mehr frisch waren.
„Leider bekommen wir vom Bonbonverkäufer nichts“, lachte sie, „und dabei esse ich doch so gerne Bonbons!“
Finn erinnerte sich plötzlich an die zwei Geldstücke in seiner Tasche und dachte, dass er ihr zu gerne Bonbons kaufen würde. Dann aber betrachtete er die anderen Kinder und sagte vorerst lieber nichts. Vielleicht konnte er sich später mal mit ein paar Bonbons bei ihnen revanchieren?
„Wir müssen auch langsam los“, bestätigte der große Rudolf.
„Heute ist Markt im Nordviertel“, erklärte er dann Finn. „Dort fällt immer ein bisschen Obst oder Gemüse für uns ab. Manchmal sogar noch Besseres!“
Der dicke Justus leckte sich genießerisch die Lippen.
„Die Pfannkuchen neulich waren wirklich zu gut! Sie hatten zu viele gebacken“, berichtete er dann zu Finn gewandt, „und als der Markt zu Ende war, wollten sie die übrig gebliebenen Pfannkuchen nicht mitnehmen, und wir bekamen den Rest!“
Allmählich dachte Finn, dass es ziemlich harte Arbeit sein musste, auf diese Weise sein Essen zu bekommen. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie es wohl war, wenn man sich sein Essen selber zusammen suchen musste.
Im Waisenhaus hatte es zwar nicht übermäßig viel zu essen gegeben, und manchmal hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht als ein schönes Stück Fleisch oder – wie Lucy – leckere Bonbons, für die das Geld einfach nicht dagewesen war, aber wenigstens waren sie nie hungrig ins Bett gegangen. Hier bei diesen Kindern, die ohne Eltern und auch ohne ein sorgendes Fräulein Winter lebten, schien das gar nicht so sicher zu sein. Wie oft mochte Tom – sein Bruder! – wohl schon hungrig und frierend schlafen gegangen sein?
Justus und Rudolf erhoben sich.
„Komm auch mit“, sagte Rudolf zu dem kleinen Mark.
„Wenn er dabei ist“, lachte Justus, „bekommen wir immer viel mehr! Guck mal ganz hungrig!“ verlangte er von dem Blondschopf. Sofort setzte der Kleine ein erbarmungswürdiges Gesicht auf. Seine Augen wurden riesig groß, und er sah Finn auf eine Art an, dass er das Gefühl hatte, den Jungen sofort in den Arm nehmen und trösten zu müssen.
Dann kicherte Mark und das Gefühl verschwand wieder. Finn musste auch grinsen.
„Viel Erfolg“, wünschte er den dreien, die sich winkend auf den Weg machten.
„Und was wirst du tun?“, fragte er dann Tom.
„Ich denke, ich würde gerne mit euch beiden gehen“, sagte Tom leise.
„Ich finde es so unglaublich, endlich eine Familie zu haben. Einen Bruder. Ich möchte gerne ein wenig Zeit mit dir
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